Tallinn/Wien – Die vom liberalen Ministerpräsidenten Taavi Rõivas geführte Mitte-rechts-Koalition in Estland ist am Ende. Unter den Koalitionspartnern seiner Reformpartei hatte es schon länger gekriselt. Am Montagabend hatten die Sozialdemokraten und das gemäßigte Nationalistenbündnis IRL Rõivas die Koalition zum freiwilligen Rückzug aufgefordert. Für Mittwoch ist im Parlament ein förmliches Misstrauensvotum angesagt.

Als neuer Regierungschef steht der erst am Wochenende zum Vorsitzenden der Zentrumspartei gewählte Jüri Ratas hoch im Kurs. Der 38-jährige Ökonom hatte Parteichef Edgar Savisaar abgelöst, der wegen seiner politischen Funktionen im einst sowjetischen Estland als Hindernis für eine Kooperation mit der Zentrumspartei galt. Letztere wird vom Großteil der knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachenden Russischsprachigen bevorzugt. Die Reformpartei hat bisher einen betont prowestlichen, neoliberalen Kurs gefahren, zu dessen Verlierern vor allem die russische Minderheit zählte.

Reformpläne gescheitert

Estland trat neben Lettland und Litauen 2004 EU und Nato bei. Im Juli beschloss die Nato, als Reaktion auf Russlands Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim ab 2017 tausende Soldaten nach Osteuropa und in die baltischen Länder zu verlegen. Estland übernimmt im Juli anstelle Großbritanniens die EU-Präsidentschaft.

Rõivas, seit März 2014 im Amt, scheiterte mit vielen Reformplänen. Seine Partei, die derzeit stärkste Fraktion, litt wegen lahmer Wirtschaftsdaten und Verschlechterungen im Sozial- und Gesundheitsbereich an massivem Popularitätsschwund. (Andreas Stangl, 8.11.2016)