Wien – Engel in der Höhe brauchen eine gewisse Größe, eh klar, damit man sie auch vom Erdboden aus gut sieht. Kommen sie dann allerdings herab, können sie einen mit ihrer geradezu monströsen Erscheinung überwältigen. So zu erleben ist es aktuell im Wiener Winterpalais. Ein mächtiger, holzgeschnitzter Engel, angefertigt, um hoch über einem Kirchenaltar an der Seite Mariä zu schweben, hängt dort quasi auf Augenhöhe mit den Besuchern.
Die dazugehörige Ausstellung heißt Himmlisch! und ist besser als ihr Titel. Sie ist dem Barockbildhauer Johann Georg Pinsel gewidmet, einem Rätsel der Kunstgeschichte. Wenig ist über das Leben dieses Meisters bekannt, der in den 1750er-Jahren in den Gebieten der heutigen Westukraine wirkte. Durch Quellen belegt ist seine Mitarbeit an der Ausstattung dreier Kirchen in Lemberg und Monastyrys'ka. Nahe liegt, dass er mit dem Architekten Bernard Meretyn kooperierte.
Viele Werke konnten Pinsel allerdings nur auf Basis von Stilanalysen zugeschrieben werden. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass so manche Aufstellungsorte sowie genaue Figurenkompositionen nicht rekonstruierbar sind, weil sie im Zuge einer wechselvollen Geschichte (der Säkularisierung) verloren gingen respektive – vor allem in der Zeit der Sowjetunion – zerstört wurden.
Hilfreich für die Forschung ist indes, dass der Bildhauer Pinsel, abseits der großen Kunstzentren, einen durchaus eigenwilligen, expressiven Stil prägte. Seine Figuren ufern aus, vibrieren vor Intensität, sind mitunter heftig verdreht und verzerrt. Etwa ein ihm zugeschriebener Samson mit Löwe, entworfen für die Pfarrkirche in Hodowycia: Eingefangen in jenem Augenblick, da er dem Löwen mit den bloßen Händen das Maul aufspreizt, hat der Held nichts von jener eleganten Ruhe, mit der Vorgänger dieselbe Szene darstellten. Pinsels Samson bebt vor Energie, die angespannten Muskeln scheinen die Grenzen des Körpers sprengen zu wollen. Entscheidend für den Stil des Meisters ist aber nicht zuletzt auch der Umgang mit Kleidung: Sie umflattert ihre Träger oft gar wild, lässt sie noch einmal voluminöser, ja unruhig "flackernd" erscheinen.
Als Vergleichsgröße bieten die Kuratoren Maike Hohn und Georg Lechner im Winterpalais dabei etwa ungleich klassizistischer gearbeitete Skulpturen aus der Hand des Österreichers Giovanni Guiliani (1664-1744) an. Zu sehen sind andererseits aber auch Gemälde von Franz Anton Maulbertsch, dessen Figuren mit ihren ausdrucksbetonten Körperhaltungen und markanten Gesichtern frappierende Parallelen zu den Skulpturen Pinsels aufweisen.
Bemerkenswert ist, welches "Eigenleben" die Figuren im Winterpalais entfalten. Zwar werden sie, wo möglich, in Anlehnung an ihre ursprünglichen Ensembles präsentiert. Gleichzeitig ist aber auch ihre Existenz als eigenständige Kunstwerke betont, ihr reicher Gehalt außerhalb der theologischen Deutungskorsette, denen sie entstammen. Am deutlichsten mag dieser Effekt am eingangs erwähnten tiefer gehängten Engel hervortreten. Doch auch ansonsten liegt tatsächlich einiger Reiz darin, diesen "gestrandeten Existenzen" – mit diesem hübschen Wort werden die Figuren in einem Wandtext bezeichnet – direkt "in die Augen zu schauen", wie Kuratorin Hohn vorschlägt. (Roman Gerold, 10.11.2016)