Foer: "Die Liebe ist keine Rechenaufgabe."

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Das Interview findet in Jonathan Safran Foers Haus in Brooklyn statt. Der 39-Jährige tappt in Socken voraus, was nicht ganz zur großbürgerlichen Atmosphäre des Salons passt, in den er führt. Seine beiden Söhne hat er mit der Babysitterin zum Friseur geschickt. Er setzt sich in einen der Vintage-Designersessel vor das maßgeschreinerte Bücherregal. Foer gibt sich getragen und weihevoll, als müsse er das Image des naiven Wunderkindes ein für alle Mal loswerden, das ihm seit seinem Erfolgsdebüt Alles ist erleuchtet von 2002 anhängt. Auf Fragen, die ihm zu persönlich sind, reagiert er mit höflicher Verschlossenheit, auf solche allgemeiner und weltpolitischer Natur, zurückhaltend. Am glücklichsten scheint er, wenn man ihm Passagen aus seinem neuen Roman zitiert.

STANDARD: Sie leben hier in Brooklyn nur ein halbes Dutzend U-Bahn-Stationen vom chassidischen Viertel Borough Park entfernt. Was verbindet Sie mit den ultraorthodoxen Juden dort?

Foer: Außer Genen und einer Geschichte? Nichts. Ich lebe nicht so wie sie, bete nicht so wie sie, wähle nicht so wie sie. Dennoch bilden diese Gene und diese Geschichte die Grundlage für eine gemeinsame Identität.

STANDARD: Diese Identität ist eines der Themen in Ihrem neuen Roman "Hier bin ich". Was also macht einen Juden zum Juden?

Foer: So etwas wie einen Juden gibt es nicht. Die Schriftstellerin Lynne Tillman hat einen wunderbaren Essay mit dem Titel Nothing Is Good for Jews ("Nichts ist gut für die Juden") geschrieben. Was sie damit meinte, war nicht, dass für die Juden nichts gut genug ist – sondern dass man sich unmöglich etwas vorstellen kann, dem alle Juden zustimmen würden, weil es so viele verschiedene Arten von Juden gibt. Ich gebe zu, dass Hier bin ich eine Menge Fragen zum Judentum aufwirft. Aber ich glaube nicht, dass der Roman viele Antworten enthält.

STANDARD: Weil Sie keine haben?

Foer: Ich weiche Ihrer Frage nicht aus, wenn ich sage, dass meine Antwort im Chor der Stimmen besteht, die in Hier bin ich zu Wort kommen. Meine Antwort besteht in den zahlreichen Antworten und Nichtantworten dieses Romans.

STANDARD: Zum Beispiel was Israel betrifft? In "Hier bin ich" droht dem Staat der Untergang. Der Protagonist Jacob glaubt deshalb, sich über seine eigene Stellung zum Heiligen Land klar werden zu müssen.

Foer: Was Israel betrifft, habe ich oft das Gefühl, durch einen Sturm der Argumente zu steuern. Ich bin nicht naiv und ziehe manche Argumente anderen durchaus vor. Aber als Schriftsteller bin ich politischen Meinungen gegenüber misstrauisch. Es geht nicht darum zu verkünden: "Israel muss sich sofort aus dem Westjordanland zurückziehen." Oder: "Die Hauptstadt von Jerusalem muss Tel Aviv sein." Oder: "Netanyahu ist ein Kriegsverbrecher." Es ist viel komplizierter. Wie kompliziert, versuche ich in Hier bin ich zu zeigen. Meine primäre Identität und die, in der ich mich am wohlsten fühle, ist die des Schriftstellers. Als solcher versuche ich die Welt immer aus einer Vielzahl von Blickwinkeln zu betrachten und zu beschreiben, nie nur aus einem einzelnen.

STANDARD: Dennoch ist "Hier bin ich" insofern spezifisch, als Sie mit der Familie Bloch darin den Typus der amerikanischen Juden schildern, die, so schreiben Sie, "bis auf die Ausübung ihres Glaubens alles tun, um ihren Kindern ein Gefühl für die jüdische Herkunft zu vermitteln". Sind Sie einer dieser Juden?

Foer: Das sind die Juden, unter denen ich aufgewachsen bin. Noch einmal: Wir sollten uns vor Pauschalisierungen hüten. Für jeden amerikanischen Juden, den ich beschreibe, gibt es tausend andere, auf die diese Beschreibung nicht zutrifft. Aber er existiert tatsächlich, der Typ, der höchstens zweimal im Jahr in die Synagoge geht, der nie Schweinefleisch essen würde, aber mit Garnelen kein Problem hat, der Typ, der sich für die Accessoires des Judentums interessiert, aber nicht die Praxis.

STANDARD: Wie sehr haben sich Ihre Eltern bemüht, Ihnen dieses "Gefühl für die jüdische Herkunft zu vermitteln"?

Foer: Immerhin so sehr, dass ich ganz einfach alle Leute für Juden hielt. Mir war nicht klar, dass ich in der öffentlichen Schule, die ich besuchte, eine Minderheit darstellte. Dennoch oder eben deshalb war das Judentum nie ein Thema für mich, bis ich Schriftsteller wurde. Erst da drängte sich mir plötzlich all dieses Material auf, nach dem ich gar nicht gesucht hatte. Ich war richtig schockiert. Alles ist erleuchtet, einen solchen Roman hätte ich nicht einmal lesen wollen. Dass ich ihn sogar selbst schreiben würde, war für mich völlig unvorstellbar – bis ich ihn geschrieben hatte.

STANDARD: Erging es Ihnen im Fall von "Hier bin ich" ähnlich?

Foer: Beim Schreiben von Hier bin ich hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, an einem Roman und zugleich an meinem Leben zu arbeiten. Es war nicht kathartisch. Es war nicht therapeutisch. Hier bin ich ist weder autobiografisch noch ein Bekenntnis. Aber dieser Roman ist sehr, sehr ... persönlich.

STANDARD: Es zerfällt darin nicht nur Israel, sondern auch eine Ehe. Hat Ihre Ex-Frau, die Schriftstellerin Nicole Krauss, den Roman gelesen?

Foer: Ja.

STANDARD: Hat er ihr gefallen?

Foer: Ja, sie war sehr großzügig. Aber ich hatte die Handlung von Hier bin ich bereits im Kopf, bevor ich mich selbst scheiden ließ.

STANDARD: Wie Jacob, der im Geheimen seit Jahren an einer Fernsehshow über eine Familie arbeitet, die seiner eigenen aufs Haar gleicht und die auseinanderbricht, bevor mit seiner Familie dasselbe geschieht.

Foer: Na ja, da beißt sich die Katze wohl in den Schwanz.

STANDARD: Jacob sagt über seine Show an einer Stelle: "Das ist nicht mein Leben, aber das bin ich."

Foer: Ich könnte dasselbe über diesen Roman sagen.

STANDARD: Sie haben ebenfalls zwei Jahre lang an einer Fernsehshow über eine Familie gearbeitet. Aus dem Projekt sind Sie aber im letzten Moment ausgestiegen, weil Sie nicht zum Drehbuchschreiber werden wollte. Empfanden Sie das als Scheitern oder als Rettung?

Foer: Mein Psychiater würde sagen: Warum so binär? Es war beides, eine unglaubliche Zeitverschwendung und zugleich die beste Verwendung meiner Zeit überhaupt. Mir wurde wieder bewusst, wie wichtig Sorgfalt beim Schreiben ist. Ich entdeckte meine Freude an neuen des Erzählens, an Dialogen zum Beispiel. Hier bin ich enthält viel mehr Dialoge als meine bisherigen Romane.

STANDARD: Aber wie in Ihren beiden bisherigen Romanen spielen Kinder, junge Menschen darin die Rolle der Weisen. Die drei Söhne merken viel früher als ihre Eltern, dass die Familie am Auseinanderbrechen ist. Sie haben selbst zwei Söhne. Was haben Sie von Ihren Kindern gelernt?

Foer: Alles? Nichts? Ich habe gelernt, dass die Liebe keine Rechenaufgabe ist. Dass sich eine Art der Liebe nicht mit einer anderen Art der Liebe messen lässt – die Liebe der Eltern zueinander nicht mit jener der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe der Kinder zu ihrem Hund nicht mit jener zu ihren Freunden ... und so weiter. Die meisten verheirateten Paare machen den Fehler, dass sie aufhören, einander Beachtung zu schenken, sobald sie Kinder haben. Ich frage mich oft: Wo sind all die Kinder, die sich auf dem Spielplatz den Schädel eingeschlagen haben?

STANDARD: Wie bitte?

Foer: Oder die Kinder, die in Swimmingpools ertrunken oder die gestorben sind, weil wir sie nicht mit genügend Brokkoli gefüttert haben. Tatsache ist doch, dass Kinder normalerweise überleben. Trotzdem wachen wir mit einer Aufmerksamkeit über sie, als schwebten sie in ständiger Todesgefahr. Dabei ist das Einzige, was wirklich in Todesgefahr schwebt, die Beziehung zwischen den Eltern. Es ist genügend Liebe für alle vorhanden. Wir müssen sie nur richtig verteilen.

STANDARD: In "Hier bin ich" machen sich Erwachsene ihrer Kinder wegen auch über den Tod Gedanken. Inwiefern haben Ihre Kinder Ihr Verhältnis zum Tod verändert?

Foer: Sie haben es komplett verändert. Aber wie genau, ist schwierig zu sagen. An einem normalen Tag wie heute denke ich anders über den Tod als an meinem Geburtstag oder an dem meiner Kinder. Noch einmal anders sehe ich ihn, wenn wieder irgendwo eine Schießerei in einer Schule stattgefunden hat. Kinder erinnern einen an die eigene und an die Sterblichkeit anderer und zugleich sind sie ein Beweis dafür, dass etwas von einem immer überlebt.

STANDARD: In "Hier bin ich" zitiert einer der frühreifen Söhne der Blochs den Philosophen Franz Rosenzweig, der auf die Frage, ob er religiös sei, geantwortet haben soll: "Noch nicht". Würde Ihre Antwort ebenso lauten?

Foer: Das ist eines meiner absoluten Lieblingszitate. Es enthält so viel Sehnsucht, so viel Schönheit, Selbstironie, Enttäuschung und Optimismus. Der Begriff "religiös" trifft auf mich, so wie ich jetzt bin, sicher in keiner Weise zu. Aber je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich nach etwas ... das ich nicht unbedingt Glauben nennen würde. Sicher ist es keine organisierte Religion. Es eher ist etwas, das ich mit Demut und Ehrfurcht verbinde, einem Bewusstsein dafür, wo man in der menschlichen Gemeinschaft und im Universum steht.

STANDARD: Was hat Sie bisher davon abgehalten, zu diesem Bewusstsein zu finden?

Foer: Bequemlichkeit, das Bedürfnis nach ständiger Ablenkung. Bisher fühlte ich mich diesem Etwas immer beim Schreiben am nächsten, wenn es mir gelang, meine innere Kamera scharf einzustellen. Sollte ich dieses "Was immer es ist" je erreichen, dann also wohl durch das Schreiben. (Sacha Verna, Album, 13.11.2016)