Bild nicht mehr verfügbar.

Die Geschichte der Wissenschaft ist auch eine Geschichte der Irrwege und Sackgassen – zum Glück!

Foto: dpa-Zentralbild/Patrick Pleul

Wissenschaft ist wichtig. Unsere moderne Gesellschaft und fast unser gesamter Alltag basieren auf dem, was Wissenschaft und Forschung in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten über die Welt herausgefunden haben. Wissenschaft ist die derzeit beste Methode, um zu objektiven Erkenntnissen über die Natur zu gelangen.

Aber Wissenschaft ist natürlich nicht unfehlbar. Wissenschaft produziert keine absoluten Wahrheiten. Das kann sie nicht, und das ist auch gar nicht ihr Anspruch. Es geht darum, die Erscheinungen der Welt so gut wie möglich zu beschreiben und aus dieser Beschreibung neue, verlässliche Erkenntnisse zu gewinnen, die es zuvor nicht gegeben hat.

Gewundene Pfade

Diese neuen Erkenntnisse verändern aber oft auch unser Bild der Welt und führen zu völlig neuen Beschreibungen. Es ist daher nur natürlich, dass der Weg der Wissenschaft keine gerade Linie des reinen Fortschritts ist, sondern ein komplizierter und gewundener Pfad mit vielen Umwegen und Sackgassen. In der Rückschau lässt sich vieles von dem, was man früher für "richtig" gehalten hat, als Irrtum erkennen.

Aber diese Fehler sind wichtig. Unsere Beschäftigung damit ist wichtig. Denn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gilt, was für die Vergangenheit gilt, auch für die Zukunft: Vieles von dem, was wir heute als die "beste" Beschreibung der Welt auffassen, werden spätere Generationen vielleicht als "Irrtum" betrachten – das sollte uns immer bewusst sein.

Grenzen bedenken

Die wissenschaftlichen Irrtümer sind dabei aber nicht immer verschwendete Zeit oder wertlos. Newtons Beschreibung der Gravitationskraft aus dem 17. Jahrhundert kann man zum Beispiel durchaus als "falsch" betrachten. Immerhin wissen wir seit Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, dass Newtons Theorie der Gravitation nicht ausreicht, um viele Vorgänge im Universum korrekt zu beschreiben.

Trotzdem lassen sich viele andere Dinge mit Newtons Ansatz immer noch sehr gut verstehen, und seine Formeln werden auch heute noch überall in der Naturwissenschaft mit großem Erfolg verwendet. Man muss sich eben nur der Grenzen ihrer Gültigkeit bewusst sein – und immer daran denken, dass auch Einsteins "richtige" Theorie der Gravitation mit ziemlicher Sicherheit auf die gleiche Art unvollständig beziehungsweise "falsch" ist wie die von Newton.

Fruchtbare Sackgassen

Andere wissenschaftliche Konzepte der Vergangenheit haben sich dagegen tatsächlich als falsch herausgestellt. Zum Beispiel die Hypothese des späten 18. Jahrhunderts, dass sich zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter ein weiterer unbekannter Planet befinden müsse. Aber die Beschäftigung damit und die Suche nach dem – wie wir heute wissen – nicht existenten und niemals vorhandenen Planeten hat die Wissenschafter auf Umwegen zu ganz neuen Ideen und zur völlig unerwarteten Entdeckung der Asteroiden in unserem Sonnensystem geführt.

Wenn man immer nur auf den ausgeschilderten Wegen unterwegs ist und sich strikt nach Plan von A nach B bewegt, kann man eben viel Interessantes verpassen. Und manchmal muss man sich auch in die Sackgassen wagen, um unterwegs wirklich Neues finden zu können.

Die Beschäftigung mit den Irrtümern der Wissenschaft ist auch aus Sicht der Wissenschaftskommunikation wichtig. In meiner vorangegangenen Kolumne auf derStandard.at, "So ein Schmarrn", habe ich mich sehr ausführlich mit der gesellschaftlichen Relevanz und den Auswirkungen von Esoterik und Pseudowissenschaft beschäftigt. Ein Grund, warum sich diese irrationalen Weltanschauungen so gut und schnell verbreiten können, sind die in der Bevölkerung vorherrschenden Vorurteile über die Wissenschaft.

Verzerrte Darstellung

In der Schule, den meisten Lehrbüchern und oft auch an der Universität werden die Irrtümer, Fehlschläge und Zufälle auf dem Weg zu wissenschaftlicher Erkenntnis unterschlagen. Die Forschung wird als eine einzige Erfolgsgeschichte präsentiert, in der Entdeckung auf Entdeckung folgt. Die mühsamen Wege und Irrwege, die zu diesen Entdeckungen geführt haben, werden ignoriert.

Das kann den Eindruck erzeugen, die Produktion absoluter und ewig bestehender Wahrheiten sei Aufgabe, Ziel und Anspruch der Wissenschaft. Dann ist es nicht weit zu dem Vorurteil, dass die Wissenschaft "engstirnig" und "dogmatisch" sei; dass sie keine widersprechende Meinungen zulassen und alles abtun würde, was dem Status quo der Erkenntnis widerspreche.

Die Realität der wissenschaftlichen Forschung könnte dagegen kaum ferner von diesen Vorurteilen sein. Sowohl wenn es um die Aufklärung in Sachen Esoterik und Pseudowissenschaft geht, als auch bei der Vermittlung echten Wissens: Die Beschäftigung mit den Fehlern und Irrtümern der Wissenschaft ist dabei von essenzieller Bedeutung.

Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman hat gesagt: "Religion ist eine Kultur des Glaubens; Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifels", und hat damit absolut recht. Wir brauchen die Irrtümer! (Florian Freistetter, 15.11.2016)