"Lehrer sollen Unterstützung erhalten und nicht im juristischen Schlachtfeld alleingelassen werden", sagt die Allgemeinmedizinerin Lilly Damm.

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In jeder Schulklasse gibt es zumindest ein bis drei chronisch kranke Kinder. Aber die Lehrerinnen und Lehrer werden auf den Umgang damit – etwa Diabetes – nicht vorbereitet, kritisiert Lilly Damm.

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STANDARD: In Österreich gibt es mehr als 190.000 Kinder mit chronischen Krankheiten wie Asthma, Allergien, Diabetes, Epilepsie oder Rheuma. Ein spezielles Problemfeld ist die Schule, wo fast zwangsläufig auch die Lehrerinnen und Lehrer mit der Betreuung dieser Kinder konfrontiert werden. Wie gut funktioniert das?

Damm: Das ist sehr unterschiedlich, je nach den Vorerfahrungen, die die Schule oder bestimmte Lehrerinnen mit erkrankten Kindern haben. Ist es bereits einmal gelungen, ein insulinpflichtiges, diabetisches Kind erfolgreich durch die Volksschule zu begleiten, dann sind alle wesentlich motivierter, wieder ein diabetisches Kind aufzunehmen. Eine große Hilfe können auch persönliche Erfahrungen mit Diabetes sein, z. B. die eines Schulwarts, der eine große Hilfe bei der Schätzung der Broteinheiten beim Mittagessen sein kann. Es gibt aber auch Direktorinnen und Direktoren, die betroffenen Eltern bereits bei der Anmeldung mitteilen, dass sie das Kind nicht aufnehmen, weil sie nicht ausreichend ausgestattet sind für ein chronisch krankes Kind. Ich kenne Eltern, die eine regelrechte "Herbergssuche" von einer Schule zur anderen absolvieren, oder Kindergartenkinder, die nach Bekanntwerden der Diagnose Epilepsie den zugesagten Platz verloren haben. Das größte Problem scheint mir, dass Lehrer in ihrer Ausbildung in keiner Weise auf die Situation vorbereitet werden, dass in jeder Klasse in Österreich zumindest ein bis drei chronisch kranke Kinder sitzen.

STANDARD: Die Lehrergewerkschaft hat im STANDARD auf juristische Grauzonen hingewiesen, wo für den Fall, dass einmal etwas passieren sollte, die Amtshaftung der Republik nicht greifen würde und das Risiko zu helfen zu groß sei. Sind diese Ängste begründet?

Damm: Ich verstehe die Ängste der Lehrer sehr gut, sie sind ja aus Überzeugung Pädagogen geworden und nicht medizinisches Hilfspersonal. Allerdings haben viele der Gesundheitsprobleme der Schulkinder einen starken und direkten Unterrichtsbezug, den die Lehrer kennen sollten, etwa die Bedeutung der Pausengestaltung oder Stundenplanänderungen für diabetische Kinder. Es gibt nur wenige Einzelfälle, in denen anspruchsvollere Hilfeleistungen gegeben werden müssen. Da sollten hilfswillige Lehrer, die sich einschulen lassen, auch volle rechtliche Absicherung haben.

STANDARD: Was sollte denn so eine rechtliche Grundlage beinhalten?

Damm: Wenn die zuständigen Ministerien für Unterricht und Gesundheit ihren Fokus auf eine Lösung richten würden und nicht auf eine Abschiebung des Problems, wie das leider bislang geschehen ist, sollte es nicht allzu schwierig sein. Den politischen Willen vermisse ich aber schmerzlich. Lehrer sollten fachgerechte Unterstützung erhalten und nicht im juristischen Schlachtfeld allein gelassen werden.

STANDARD: Welche Erfahrungen machen Sie mit Lehrerinnen und Lehrern, die chronisch kranke Kinder in der Klasse haben?

Damm: In den allermeisten Fällen sind sie enorm bemüht, würden aber mehr Support durch qualifizierte Informationen oder schnelle Rückfragemöglichkeiten benötigen. Für manche Lehrer bedeutet die Obsorge für ein diabetisches Kind Stress, andere haben in enger Zusammenarbeit mit den Eltern oder in der kollegialen Kooperation großen Rückhalt. Der Unterstützungsbedarf ist sicher größer, je jünger das Kind ist.

STANDARD: Was sind denn die häufigsten Probleme, die in der Schule im Zusammenhang mit chronisch kranken Kindern auftauchen?

Damm: Das größte Problem sind die fehlenden Informationen und die fehlende Unterstützung für Lehrer, damit eng verbunden ihre Haltung, dass ein Kind entweder krank oder gesund ist. Das biopsychosoziale Verständnis von Gesundheit und Krankheit, von Risiko- und Schutzfaktoren, die Gesundheit und Krankheit beeinflussen, ist Lehrern in diesem Zusammenhang nicht bewusst. Wenn man sie darauf anspricht, dass sie auch selbst das eine oder andere Gesundheitsproblem haben und trotzdem ihre Arbeit in der Schule machen, dann ändert sich die Haltung den Kindern gegenüber. Oft werden Kinder auf ihre Erkrankung reduziert, und es wird dabei übersehen, dass sie ganz normale Kinder mit normalen Bedürfnissen sind. Die Integration der Krankheit in einen normalen Alltag ist dann die Herausforderung, und je besser sie gemeistert wird, desto weniger Spätfolgen werden auftreten.

STANDARD: Was fehlt zur angemessenen Versorgung chronisch kranker Kinder in der Schule?

Damm: Die Forderung, dass gut geschultes Pflegepersonal an die Schulen gehört, zumal die meisten akut auftretenden Gesundheitsprobleme in der Schule definitiv pflegerischer Natur sind, wird seit Jahren erhoben und auch von allen Direktorinnen und Direktoren als wichtigste Unterstützung im Schulalltag genannt. In größeren Schulen kann es tatsächlich eine fixe Schulkrankenschwester sein, die zumindest in der Kernzeit anwesend ist. Kleinere Schulen könnte man zu einem Sprengel zusammenfassen, für den eine Pflegeperson oder Gemeindekinderkrankenschwester zuständig ist, wie beispielsweise seit über 20 Jahren erfolgreich in der Gemeinde Korneuburg.

STANDARD: Gibt es Länder, in denen die Betreuung chronisch kranker Kinder in der Schule sehr gut gelingt?

Damm: In Schweden gibt es eine vorbildliche Lösung mithilfe der School Health Nurse, die täglich anwesend ist und nicht nur bei akuten Problemen, wie sie ja gar nicht so selten in Schulen vorkommen, z. B. Fieber oder Erbrechen, hilft, sondern auch bei der Betreuung und Lehrerschulung von chronisch kranken Kindern. In vielen europäischen Ländern sind Schulkrankenschwestern und auch Ärzte und Psychologen an Schulen tätig. Ich würde dem noch Sozialarbeiter hinzufügen.

STANDARD: Es gibt die Bürgerinitiative "Gleiche Rechte für chronisch kranke Kinder", in der auch Sie aktiv sind – wo haben chronisch kranke Kinder keine gleichen Rechte?

Damm: In Österreich wird in vielen Fällen entweder das Recht auf Bildung verletzt, etwa indem Kinder von schulbezogenen Veranstaltungen ausgeschlossen werden, oder das Recht auf Gesundheit, indem sie durch Unwissenheit der Lehrer unbeabsichtigte Gesundheitsgefährdungen erleiden. Chronisch kranke Kinder haben mehr Fehlstunden als andere Schulkinder, und sie haben schlechtere Benotungen, als es ihrer Begabung entspricht. Ich kenne Jugendliche, die lebenswichtige Messungen bzw. Insulingaben am Vormittag nicht mehr gemacht haben, weil bestimmte Pausen gestrichen wurden. Ich kenne diabetische Kinder, die ohne Blutzuckermessung oder Einnahme einer Sport-Broteinheit von Turnlehrern zu Dauerläufen motiviert wurden. Ein Kind, das nach der Insulingabe seine Broteinheiten nicht aufessen durfte, schrammte anschließend stundenlang unmittelbar an einer bedrohlichen Unterzuckerung vorbei. In so einem Alarmzustand sind Lernvorgänge nicht möglich.

STANDARD: Was ist das Wichtigste, das chronisch kranke Kinder von bzw. in der Schule brauchen?

Damm: Vor allem Respekt. (Lisa Nimmervoll, 16.11.2016)