Wien – Als die Menschheit irgendwann einmal die Nase voll hatte von der täglichen ungefilterten Konfrontation mit Leid, Mühsal und Herzschmerz, schuf sie die Kunst. In diese Gegenwelt hatten die erwähnten Negativa der Realität zwar Zutritt, jedoch bitte schön nur in erbauender Form.

In den Gefilden der Musik wurde der Liedgesang zum realitätsfernsten Refugium des immerwährend Schönen, und eine der schönsten Stimmen in dieser Enklave ist jene von Christian Gerhaher. Sie ist in jedem Moment hell und honigweich. Das Ohr trinkt ihren Klang so freudvoll wie der Mund den wärmenden Wein, und auch das Gemüt labt sich an ihr. Wenn Gerhaher singt, so ist das ein beseeltes Erzählen in melodischer Gestalt. Am Dienstagabend erzählte der Mittvierziger im Mozart-Saal des Konzerthauses recht viel von Gott und vom Tod: ein Novemberprogramm also. Mit Liedern von Schumann wurde der Großteil des Programms bestritten; um zu demonstrieren, dass es in der Musikgeschichte auch regressive Entwicklungen gibt, wurden Antonín Dvoráks simple Stimmungsbilder mit religiöser Thematik, die Zehn biblischen Lieder op. 99, dazwischengefügt.

Gesitteter Unruhestifter

Doch Herzstück der Unternehmung waren die Schumann-Deutungen: Nach den Vier Gesängen op. 142 und den Liedern und Gesängen op. 77, Band III kulminierte der Abend in der Interpretation der Kerner-Lieder. Gerold Huber war am großen Schwarzen ein gesitteter Unruhestifter, ein Gentleman-Querulant, seine Deutungen der Klavierstimmen waren fantasiereich, intensiv und von minutiöser Genauigkeit. Und an Gerhahers Sangesweise konnte man sich sowieso nicht satthören.

Zu den fesselndsten Eindrücken wurde das zweite der Zwölf Gedichte op. 35, Stirb, Lieb' und Freud'! Die balsamische Ruhe, mit der der bayerische Bariton die Geschichte des frommen Mädchens und ihres stillen Bewunderers erzählte, dieser Spannungsbogen, den die zwei Musiker hier aufbauten ... oh, wie schön. (Stefan Ender, 16.11.2016)