Peter Sloterdijk, von der Arbeit des Fabulierens in Mitleidenschaft gezogen – und befreit von den Fesseln systematischer Theorie.


Foto: Imago / Horst Galuschka

Wien – Zum Wesen der Philosophie gehört, dass sie gegenüber jedem Thema, das sie aufgreift, Diskretion bewahrt. Als Tätigkeit aufgefasst, krankt das Philosophieren daher am ehesten an der Blässe seiner eigenen Vorurteilslosigkeit. Dennoch gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen man meinte, man würde sie auf dem Gegenstandsfeld der Philosophie unmöglich antreffen. Als ein solches Sujet darf das physiologische Wunder des weiblichen Orgasmus angesehen werden. Ein Buchtitel wie Das Schelling-Projekt vermittelt vom Aroma des Themas kaum einen Hauch.

Die Überschrift von Peter Sloterdijks neuem Buch gehört auch schon zum Witz, den sich sein Autor mit dem Gegenstand macht. Mit der Subjektphilosophie des Idealisten F. W. J. Schelling (1775- 1854) hat es höchstens am Rande zu tun. Sloterdijk gilt als Meisterstilist. Er steht als unsystematischer Denker in der Nietzsche-Nachfolge generell unter Beobachtung. Als erfahrener Provokateur trägt er sich höchst selten mit Bedenken, ob die Thesen, die er vertritt, einer Überprüfung durch die Organe des Mainstreams auch wirklich standhalten.

Sein neuester Anschlag gilt – nicht zum ersten Mal – der Kathederweisheit der Schulphilosophie. Doch vielleicht wollte Sloterdijk den wurmstichigen Katheder auch nur von der Anrüchigkeit des gewählten Themas freihalten. Also schlägt er einen Purzelbaum hinein in die Belletristik. Herausgekommen ist sein witzigstes Buch seit Menschengedenken.

Das Schelling-Projekt ist ein Briefroman auf der Höhe der aktuellen Möglichkeiten. Das heißt: Fünf Personen schreiben einander E-Mails. Sie sind allesamt Forscher im Weinberg der Humanwissenschaften. Ihr loser Zusammenschluss gilt der Aufsetzung eines Projekts. Dieses soll durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, sesshaft in Bonn, geldwerte Unterstützung erfahren.

Es kann nicht verwundern, dass der barocke Titel besagter Studie dem Thema, das sie vertritt, Gewalt antut. Er lautet: "Zwischen Biologie und Humanwissenschaften: Zum Problem der Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität auf dem Weg von den Hominiden-Weibchen zu den Homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus".

Es gehört zum Wesen der Selbstreflexion, die Wunderlichkeit des eigenen Vorhabens ernsthaft in Betracht zu ziehen. Als Gruppensprecher des Forscherpools tritt ein gewisser "Peer Sloterdijk" auf. Seine MitstreiterInnen tragen Namen, die dem Geist des Herrenwitzes entsprungen scheinen: "Desiree zur Lippe" oder "Guido Mösenlechzner".

Die albernen Namen wird man den Figuren nicht zum Vorwurf machen. Allenfalls darf man monieren, dass ihre Auslassungen stets Sloterdijk erkennen lassen. Ihr Briefverkehr erzeugt permanent Höhepunkte einer überschäumenden Fabulierlust.

Sexueller Appetit

Der Leser begegnet einer Gruppe aufgeschlossener Menschen der Altersgruppe 50 plus. Erzählt wird nicht ohne Umschweife von Gruppenaktivitäten, die, zufolge der Gemütslage nach 1968, das Stillen des Durstes nach Freiheit mit der Befriedigung sexueller Appetite verknüpften. Das Rudelbumsen auf Futonmatratzen nimmt sich noch in der Rückschau bescheiden aus. Man muss sich vor Augen halten, dass Letztere so "steinhart" waren "wie das Leben in der Klassenlosigkeit".

Die gedankliche Erschließung weiblicher orgasmatischer Fähigkeiten gleicht eher einem Vorwand. Sloterdijks mit Aperçus gespicktes Parlando zielt auf nichts Geringeres als einen Schöpfungsbeweis. Indem die bewusstlose Natur die weibliche Spezies libidinös reich belohnt, schlägt sie uns gegenüber generös "die Augen auf". An diesem heiklen Punkt kommt denn auch Schelling ins Spiel. Indem dieser die Wurzel des Subjekts in die Materie zurückübersiedelte, vollzog er die "tiefengynäkologische Wende der Philosophie im Denken des deutschen Idealismus". Sloterdijks zweiten Ausflug in die Fiktionalität muss man gerade nicht als frauenärztliche Amüsierfibel lesen. Befreit von den Fesseln philosophischer Theoriebildung, entlarvt der Autor die neuronalen Prämienleistungen der Natur.

Das Projekt der Forscher wird übrigens von der zuständigen Förderstelle abgelehnt. Kann es sein, dass die Belletristik für Sloterdijks Ideenentladungen nicht ohnehin das viel geeignetere Gefäß bildet? (Ronald Pohl, 18.11.2016)