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Von bestechender Aktualität: Robert Musil in den 1930er-Jahren.


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cover: jung und jung

STANDARD: Die Verbindung der von Ihnen herausgegebenen zwölf Bände in Buchform mit dem neuen Portal "Musil Online" wird ein "hybrid" sein. Die Buchausgabe ist zum Lesen da, Musil Online zum Forschen, vielleicht auch zum Surfen für Musil-Fans. Wenn ich es richtig sehe, bekommt man durch das Portal kostenlos Zugang zu allen Musil-Texten, auch zu Fragmenten und Entwürfen, außerdem zu Kommentaren und Erläuterungen usw. Und die Nutzer können sogar kommentieren, also die Interpretation von Musils Werken beeinflussen.

Fanta: Genau so ist es gedacht. Das Internetportal Musil Online wird alle zu Lebzeiten Musils erschienenen Texte Musils und alle Nachlassschriften kostenlos, frei zugänglich und mit Suchtools automatisch recherchierbar in einer textkritischen Weise enthalten, das heißt in einer wissenschaftlich verbürgten Wiedergabe, mit allen Varianten, die Quintessenz der bisherigen Musil-Philologie. Die mehr als zehntausend Nachlassmanuskripte und etwa dreitausend Druckseiten werden als Bilddateien hochgeladen.

Und außerdem ist tatsächlich geplant, den "philosophischen Kommentar" nach dem Wiki-Prinzip anzulegen, statt bloß sinnverengende Sacherläuterungen zu bieten, soll eine offene Diskussion um die mögliche Vieldeutigkeit der Texte geführt werden. Die Einladung zur Pluralisierung des Sinns geht mit einer Pluralisierung der Autorschaft des Kommentars einher, beide können nur in einem interaktiven digitalen Kontext realisiert werden.

Die Buchausgabe dagegen hat die Aufgabe, das Werk Musils in seiner Gesamtheit nach einheitlichen Prinzipien gestaltet für die literarische Lektüre zugänglich zu halten, darin besteht das vordringliche Ziel der auf zwölf Bände angelegten Gesamtausgabe. Größtmögliche Leserfreundlichkeit zu erreichen und dabei Wissenschaftlichkeit zu wahren, so lautet die oberste Maxime. Die philologische Sorgfalt tritt in den Dienst der Leserinnen und Leser, mit der Ausgabe sollen dem als anspruchsvoll geltenden OEuvre Musils neue Lesergenerationen erschlossen werden.

STANDARD: Warum genügen Ausgaben wie die recht populäre, doch auch sorgfältig gemachte des Rowohlt-Verlags nicht mehr? Ich habe mir seinerzeit als junger Student preisgünstig die neun grünen Bände der Taschenbuchausgabe gekauft. Die sind jetzt Makulatur?

Fanta: Die grünen Bände sind nicht (nur) Makulatur, sie sind längst vergriffen! Rowohlt verkauft Musil seit vielen Jahren nur noch ab, er legt nichts mehr neu auf. Dadurch verschwindet Musil in den halbwegs verantwortbaren Ausgaben Frisés einerseits teilweise vom Markt, auch die Tagebücher gibt es nicht mehr, andererseits werden seit dem Freiwerden der Rechte völlig unverantwortbare schludrige Nachdrucke von irgendwem veranstaltet, die jetzt den Markt überschwemmen.

Frisés Ausgaben der Tagebücher (1976), der Gesammelten Werke (1978) und der Briefe (1981) bei Rowohlt haben bis jetzt die "gültigen" Musil-Buchausgaben repräsentiert. Letztlich haben aber ihr uneinheitlicher Charakter, die schwer nachvollziehbare Textkonstitution, die ungünstige typografische Gestalt und das Bestreben, möglichst viel Material aus dem Nachlass zwischen die Buchdeckel zu zwängen, erst recht den zweifelhaften Ruf des Mann ohne Eigenschaften bestärkt, ein Buch zu sein, das nie jemand zu Ende gelesen hat. Im Übrigen wissen nicht nur die begeisterten Musil-Leser nicht, dass allein das erste Buch des Mann ohne Eigenschaften mehr als 300 Überlieferungsvarianten aufweist, und die Musil-Forschung hat es bislang überhaupt nicht gestört, ihre Exegesen auf einer derart ungesicherten Textbasis vorzunehmen. Von der aufs Äußerste gesteigerten Fragmentarität der Nachlassfortsetzung des Romans spreche ich noch gar nicht.

STANDARD: Sie sagen, dass Musil "alle Fragen des Lebens" aufwirft. Gewiss ist der "Mann ohne Eigenschaften" der Versuch, einen totalen Roman als Roman einer Totalität (genannt Kakanien) zu schaffen. Aber ist diese fragmentarisch gebliebene Totalität heute nicht doch schon ziemlich ferngerückt, in die Literaturgeschichte abgewandert? Musil versuchte, den Möglichkeitssinn zu wecken und ein experimentelles Denken und Leben mit vielfachen Identitäten zu entwerfen. Aber ist das im digitalen Zeitalter nicht längst Realität, auf eine von Musil nicht vorhergesehene, technologisch bedingte Weise? Wer zu diesem Interview hier postet, tut dies mit Pseudonym und womöglich mit erfundener Identität. Er lebt wie in einem Roman und kommt damit, wahrscheinlich unbewusst, einer Forderung Musils nach.

Fanta: Ich glaube nicht, dass der Mann ohne Eigenschaften in die Literaturgeschichte abgewandert ist. Ulrich wehrt sich dagegen, nur Literatur zu sein. Er sagt zu Tuzzi: "Mich hat doch eine Mutter geboren und kein Tintenfaß!" Er ist dem Buch entstiegen, er lebt unter uns. Wie Sie ja selbst einräumen. Für Ulrich gilt bereits, was für uns Heutige gilt. Er bemerkt, dass "ihm dieses primitiv Epische abhandengekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist". Damit ist er uns und unserer Zeit nahe.

Andererseits, ein wenig Ferne schadet nicht. Vieles mutet jungen, modernen Lesern wahrscheinlich an Kakanien abstrus an, "diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat". Da geht es Menschen in Japan möglicherweise nicht anders als Leserinnen und Lesern in Mitteleuropa, denen Musils Beitrag "zur geistigen Bewältigung der Welt" auch fremd ist. Das hängt mit Traditionsverlust zusammen. Es ist wie in Orwells 1984. Dort greifen die Menschen nach den Klassikern, haben sie auswendig gelernt, als Akt des Widerstands gegen das unerträgliche Jetzt, das sie bis in die "feine Unterwäsche ihres Bewusstseins" unter Kontrolle hält. Ich sehe die neue Musil-Ausgabe als Mittel des Widerstands im Orwell'schen Sinn.

STANDARD: Eine Frage, die ich mir bei meinen Lektüren von Musils Großroman stellte: Ist Ulrich, die Hauptfigur, eigentlich ein Widerständler? Oder passt er sich der kakanischen Gesellschaft an und behält sich lediglich eine ironische Distanz vor, ohne die er anscheinend nicht leben kann? Kakanien mit seiner Parallelaktion kann man als parodistisches Modell des (österreichischen?) Fortwurstelns verstehen. Aber auch als vernünftige, pragmatische Politik der kleinen Schritte, wie sie etwa Karl Popper ausformuliert hat. Dem stehen die Heilsverkünder gegenüber, für die sich Ulrich zwar interessiert, auf deren Seite er sich aber niemals schlagen würde.

Fanta: Die Antwort liegt in Musils Nachlass verborgen. Nämlich, wie sich Ulrich am Ende des Romans entscheiden wird: für die Anpassung, für den Rückzug oder für den Widerstand? Musil hat alle drei Lösungen nicht nur erwogen, sondern in seinen Plänen für das Finale des Mann ohne Eigenschaften auch zu Ende gedacht und sich Kapitelentwürfe dazu ausgedacht. Es ist deswegen so wichtig, den Nachlass noch einmal neu zu edieren und so an die Leserinnen und Leser zu bringen, damit sie, die Leser, mitbestimmen können, welche Entscheidung Ulrichs die richtige ist. Die Editionsform muss so offen sein, dass alle Überlegungen bis in ihre letzte Konsequenz sichtbar werden.

In meinem Buch zum Finale des Mann ohne Eigenschaften habe ich herausgearbeitet, dass Musil letztlich unentschieden bleibt. Alle drei Optionen bleiben stehen. Ulrich kann sich mit seiner Schwester in das Tausendjährige Reich der Liebe zurückziehen, in die ekstatische Sozietät, das Délire à deux, das private Glück. Er kann sich aber auch anpassen, in die Firma des Rüstungsindustriellen Arnheim eintreten, der Erfüllungsgehilfe des erzkonservativen Grafen Leinsdorf oder seines merkwürdigen Freundes, des scheinbar so naiven Generals Stumm von Bordwehr, bleiben; und am Ende in den Krieg gehen, ohne Überzeugung, eine Art des Suizids. Oder er entschließt sich zum Widerstand, er wird Spion für die Russen in Galizien, er wird zum Warner vor den Ideen des Präfaschisten Meingast oder des Rasseforschers, des Apothekers Bremshuber aus Schärding an der Laa. Es gibt noch einen vierten Weg, den der späte Robert Musil präferiert hat: die Utopie der induktiven Gesinnung: "Erkennen, arbeiten, fromm sein ohne Einbildung." "Der Mensch soll das, was ihm widerfährt, als geistige Herausforderung ansehn." Das entspricht auch dem Ansatz Karl Poppers.

STANDARD: Diese induktive Gesinnung praktiziert Ulrich ja schon im ersten Buch des Romans, in den Parallelaktionskapiteln. Allerdings mit wenig greifbaren Ergebnissen. Könnten dieser Entwurf einer offenen Gesellschaft und die essayistische, experimentelle Lebenseinstellung des Individuums der Grund sein, weshalb sich Bruno Kreisky einst so sehr für den "Mann ohne Eigenschaften" interessierte?

Fanta: Das wäre eine sehr kühne Spekulation. Von sozialistischen Gesellschaftsutopien ist der Mann ohne Eigenschaften, den Kreisky bis 1938 zu lesen bekommen konnte, ziemlich weit entfernt. Vielleicht hat er ihn gar nicht gelesen. Vielleicht hat Kreisky Musil für seine eigene Selbststilisierung, für seinen Kreisky-Mythos gebraucht. Mitte der 1970er-Jahre, genau als er an seiner Unsterblichkeit zu arbeiten begann, ist Kreisky wieder eingefallen, dass der Mann ohne Eigenschaften das einzige Buch war, das er 1938 mit ins Exil genommen hat, und er hat damals an der Gründung der internationalen Robert-Musil-Gesellschaft mitgewirkt. Musil wird gerne benutzt, um sich größer zu machen. Das tun viele, Politiker, aber auch seine Herausgeber.

STANDARD: Wir haben vor allem über Musils Hauptwerk gesprochen. Das liegt ein wenig in der Natur der Dinge, aber eine Gesamtausgabe muss natürlich auch die anderen Werke präsentieren. Ist da in editorischer Hinsicht noch mit Überraschungen zu rechnen? Welche anderen Werke Musils würden Sie den Lesern heute besonders ans Herz legen?

Fanta: Ja, es gibt durchaus Neues. Das sind die bislang völlig unveröffentlichten oder in den Rowohlt-Ausgaben kaum lesbaren Fragmente aus dem Nachlass, vor allem die philosophisch-poetologischen Reflexionen, das Begleitmaterial von Musils lebenslanger schriftstellerischer Arbeit. Textkritisch mit allen Vorstufen werden in Musil Online auch alle anderen Werke Musils dargestellt, vor allem das Drama Die Schwärmer, die Novellen der Vereinigungen und die Drei Frauen. Letztere möchte ich den Leserinnen und Lesern heute auch besonders ans Herz legen. Und dazu vor allem den Nachlass zu Lebzeiten. (Leopold Federmair, Album, 19.11.2016)