Die klassische Medizin orientiert sich in ihren Fachbereichen an Organen, durch die Genetik wird die ganzheitliche Betrachtung des Organismus und seiner Zellfunktionen zunehmend bedeutsam.

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Ein derzeit sprunghaft verlaufender technologischer Fortschritt könnte viele bisherige Denkmuster in der Heilkunde in Zukunft altmodisch erscheinen lassen. Es handelt sich dabei um die personalisierte Medizin auf Basis genetischer Charakteristika des einzelnen Patienten. So lauteten Aussagen bei der Jahreskonferenz der US-Vereinigung für personalisierte Medizin in Boston.

"Die personalisierte Medizin wird nicht nur dem einzelnen Patienten helfen. Sie wird den Gesundheitszustand insgesamt verbessern. Und sie wird Kosten sparen helfen", sagte William Dalton, vor einigen Jahren Leiter eines Comprehensive Cancer Center in den USA sowie Ex-Dekan des Arizona College of Medicine. Die Verbindung zwischen molekularbiologischen Tests und der aus ihren Ergebnissen resultierenden Auswahl des jeweils am besten geeigneten Arzneimittels gehört zu den Zukunftshoffnungen für Medizin und Patienten.

Umkehr einleiten

Bösartige Erkrankungen mit der Analyse der feinsten Eigenheiten der Krebszellen haben dabei bisher eine Vorreiterrolle gehabt. "Krebs hat auf alle von uns seinen Einfluss. Es ist Zeit, auf den Krebs Einfluss zu nehmen", sagte Dalton.

Hinter der personalisierten Medizin steckt ein Konzept, das erst seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms um die Jahrtausendwende möglich wurde. Da alle Lebensabläufe im Körper über die Genetik gesteuert werden, müssen bei Krankheiten vererbte oder erworbene genetische Grundlagen für sie vorhanden sein. Medikamente und andere Therapieverfahren (z.B. Strahlentherapie) wiederum treffen auf vorgegebene Bedingungen und wirken gut, weniger gut oder verursachen eventuell bei gar keinen Effekten nur überbordende Nebenwirkungen.

Hier setzt die personalisierte Medizin an. "Ärzte verwenden diagnostische Tests, um die beste Behandlungsform für jeden einzelnen Patienten zu finden", schrieb die US-Personalized Medicine Coalition (Vereinigung zur Förderung der personalisierten Medizin).

Personalisierung forciert

Die für die Therapieentscheidung beim einzelnen Patienten ausschlaggebenden molekularbiologischen Befunde könnten zu einer Revolution bei der Diagnose und Behandlung aller jener Erkrankungen führen, für die keine einfachen Therapieschemata gelten. Stephen Eck, Vize-Chef des Onkologieprogramms des Pharmakonzerns Astellas, sagte dazu: "2005 noch hatte der Pharmakonzern Pfizer sechs der weltweit meistverkauften Arzneimittel ohne jede Personalisierung.

Vergangenes Jahr wurde hingegen ein Viertel der neuen Medikamente von der FDA (US-Arzneimittelbehörde) nur in Kombination mit individuellen genetischen Tests zugelassen, genauso wie es in nächster Zukunft bei der Hälfte der derzeit in der Pipeline befindlichen Arzneimittel sein wird."

Die Pfizer-Blockbuster-Medikamente stammten alle noch aus einer Ära, in welcher der Wirksamkeitsnachweis von Arzneimitteln vor allem auf der Basis von groß angelegten und mit mehreren Tausend Probanden (zur Hälfte Placebogruppe) durchgeführten klinischen Studien beruhte. Sie brachten den statistischen Nachweis der Wirksamkeit. Doch sowohl bei der Wirkung als auch bei den Nebenwirkungen gibt es für alle Medikamente immer mehr oder weniger große Patientengruppen, die nicht ansprechen oder unter teilweise intolerablen Nebenwirkungen leiden. Genau hier setzt die personalisierte Medizin an.

Zielgerichteter werden

"2008 hatten wir erst fünf zielgerichtete Medikamente und die entsprechenden Tests dafür. 2010 waren es 81, 2014 dann 106 und 2016 sind es 135", sagte in Boston der Vorsitzende der US-Initiative zur Förderung der personalisierten, auf molekularbiologischen Befunden vom individuellen Patienten beruhenden Therapieform, Edward Abrahams. "Derzeit sind hier die Krebstherapien weiterhin führend, aber es werden andere Anwendungsgebiete hinzukommen."

Platz dafür wäre genügend. Michael Pellini, einer der Gründer des auf Genanalysen für Krebstherapien spezialisierten Unternehmens Foundation Medicine (Boston) meinte dazu: "Unsere Behandlungsstandards sind derzeit einfach nicht gut genug." So haben Wissenschafter schon vor Jahren errechnet, dass Antidepressiva bei 38 Prozent der Therapierten keine Wirkung zeigen. Bei Asthmamitteln und Medikamenten gegen Typ-2-Diabetes liegt dieser Anteil bei etwa 40 Prozent, bei Arzneimitteln gegen Gelenksrheuma bei 50 Prozent und bei Krebsmedikamenten bei 75 Prozent.

Könnte man auf verlässlicher objektiver Basis vorhersagen, welcher Patient auf ein Medikament ansprechen wird, müssten sich die Erfolgsraten deutlich erhöhen lassen. Gleichzeitig müsste auch der Anteil der unwirksamen Therapien und jener mit Nebenwirkungen statt positiven Effekten sinken.

Dafür erforderlich ist das Identifizieren von Zielen ("Targets"), an denen Medikamente bei einer spezifischen Krankheitsform ansetzen können und die Entwicklung solcher Substanzen. Gleichzeitig müssen die Tests entwickelt werden, um eben bei den Patienten das Vorliegen einer bestimmten Krankheitsform nachweisen zu können.

Organgrenzen überwinden

Was beim Mammakarzinom in diesem Zusammenhang beispielsweise das Vorhandensein von Hormonrezeptoren oder HER2-Strukturen auf der Oberfläche der Tumorzellen ist, kann beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom eine Mutation im EGFR-Gen, ALK- oder MET-Gen sein. Und schließlich können solche Mutationen bei Krebserkrankungen verschiedener Organe vorhanden sein. So gibt es auch HER2-positiven Magenkrebs oder EGFR-Mutationen bei Lungen- und Dickdarmkarzinomen.

Dadurch verlieren die klassischen Organ-spezifischen Einteilungen von Krebserkrankungen teilweise ihre Bedeutung. Ein Patient mit einem Lungenkarzinom mit EGFR-Mutation sollte auf jenes spezifisch ausgewählte Arzneimittel ansprechen, das auch bei einem Dickdarmkarzinomkranken mit einem Tumor mit EGFR-Mutation wirkt.

Das alles bedeutet für die weitere Entwicklung auch die Notwendigkeit, große Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, um festzustellen, wie häufig bestimmte Charakteristika sind. Der US-Sozialwissenschafter Eric Dishman will dafür in den USA ein riesiges Projekt einer "Eine-Million-Kohorte" auf die Beine stellen. Dies läuft im Rahmen der US-Gesundheitsinstitute (NIH), welche weltweit über die größten Forschungsbudgets auf dem Gebiet der Medizin verfügen.

Big Data

Eine Million Menschen sollen sich freiwillig melden und ihre Gesundheitsdaten sowie eine Blut- und eine Harnprobe zur Verfügung stellen. "Diese Personengruppe soll 50 bis 60 Jahre zur Verfügung stehen", sagte Dishman. Wissenschafter sollen mit den Daten epidemiologische Studien durchführen können.

Das Vorliegen bestimmter molekularbiologischer Merkmale des Tumors kann über die Wirksamkeit einer medikamentösen Krebstherapie entscheiden. Das in Boston 2010 gegründete Unternehmen Foundation Medicine bietet dazu auch international seinen Analyseservice an.

"Wir wollen ein medizinisches Informationsunternehmen für die Patienten und für die biopharmazeutische Industrie sein. Wir wollen jede einzelne Krebserkrankung mit den dafür verantwortlichen Genmutationen verstehen und den Ärzten bessere Voraussetzungen für ihre Therapieentscheidung liefern", sagte Foundation Medicine-Geschäftsführer Steven Kafka bei einem vom Schweizer Pharmakonzern Roche organisierten Medienseminar in Boston (USA). Der Konzern hat seit kurzem die Anteilsmehrheit an dem ehemaligen Start-up-Unternehmen. Außerhalb der USA hat Roche die Vermarktung übernommen.

Next Generation Sequencing

Der rasante Preisverfall für das Entschlüsseln von Erbgut und die Schnelligkeit, mit der beim sogenannten Next Generation Sequencing die Ergebnisse solcher Untersuchungen vorliegen, haben es dem Unternehmen als einem der ersten weltweit ermöglicht, einen umfassenden Gen-Analyse-Service für Krebspatienten zu schaffen. Auf der Basis von Tumorgewebeproben (mindestes 1,6 Kubikmillimeter) oder Blutproben erfolgt in den Labors in Boston binnen einer Woche eine genetische Analyse, welche Hinweise auf die bestmögliche medikamentöse Therapie geben soll.

"Wir haben vor kurzem den Hunderttausendsten Patienten gehabt, für den wir eine Analyse durchgeführt haben", sagte Kafka. Das Unternehmen entwickelt sich rasch. Für 2016 werden rund 41.000 Analysen erwartet. Aus Österreich gab es bisher rund 50 Proben, die untersucht wurden.

Werkzeug für Pharma

Foundation Medicine ist aber nicht nur in Eigenregie tätig, sondern arbeitet auf verschiedenen Gebieten auch für andere Pharmaunternehmen. "Mit den Daten von nunmehr bereits mehr als 100.000 Patienten haben wir eine enorm wichtige Datenbank für Analysen. So können wir Pharmaunternehmen beispielsweise Hinweise darauf geben, wie groß eine klinische Studie mit einem Medikament sein sollte, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen", sagte Kafka.

In den meisten Fällen wenden sich Ärzte bzw. Patienten an Foundation Medicine, wenn bei den Kranken die herkömmlichen verwendeten Behandlungsstrategien gegen eine Krebserkrankung nicht mehr wirken. Oft liegen Krebserkrankungen vor, bei denen die in Leitlinien standardmäßig etablierten Therapien keinen Effekt mehr aufweisen. Dann soll die molekularbiologische Analyse vielleicht doch noch Medikamente identifizieren helfen, die eine Wirkung haben könnten. (APA/red, 21.11.2016)