Sie leben dort, wo die Brandung nicht tobt und das Licht nicht hinkommt. Abalonen, auf Deutsch Seeohren, auf Lateinisch Haliotis, lieben es ruhig und dunkel, so ruhig und dunkel, dass die Bewohner Nordwestspaniens lange gar nicht wussten, welchen Schatz sie vor ihrer zerfurchten Küste haben.

Vielleicht lag es auch daran, dass in Galiciens Buchten derart viele essbare Meerestiere leben – Venus-, Enten-, Herz- oder Miesmuscheln, Seespinnen und Samtkrabben, Krebse, Garnelen, Hummer -, dass sich einfach niemand der unscheinbaren Tiere im Dunkeln besann. Das ist jetzt vorbei: Abalonen sind der neue Luxus.

Die besten Abalonen, auf Deutsch Seeohren, findet man vor der Küste Galicienst. Da sind sich Feinschmecker ebenso wie Sterneköche einig.
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Die Weichtiere verzaubern Sterneköche in Japan, etwa Shinya Fukumoto, schon lange, jetzt haben sie auch spanische Spitzenköche wie Pedro Roca und Iñaki Bretal entdeckt. Sie sind in Geschmack und Textur so vielseitig, dass man sie je nach Zubereitungsart kaum wiedererkennt: Mal trumpfen sie im Eintopf mit dicken Bohnen, Schweineohren und Kutteln auf, mal beeindrucken sie als Sashimi mit Algen und grobem Salz, mal verstecken sie sich in Tempura mit Chilisoße und Kürbisblüte, oder sie kommen als Tatar mit Eigelb und Senf auf Algenomelett daher, liegen scharf angebraten in einem Sud aus Sake, Rind und Weißwein, oder werden gekocht mit geräuchertem Rosenpaprika und Olivenöl serviert. Das Tier schmeckt köstlich, mal frisch und kühl nach Meer wie Tintenfische oder Jakobsmuscheln mal warm und zart wie Fleisch in sämiger Soße.

Ganz kurz oder sehr lang garen

Mehr als 30 Rezepte hat zum Beispiel Pedro Roca im Kopf, der in Santiago de Compostela ein Restaurant betreibt. Dabei lassen Abalonen nur drei Zubereitungsarten zu. Ihr hartes, kollagenhaltiges und fasriges Fleisch braucht, sagt Roca, "ganz kurze oder ganz lange Garzeit. Alles dazwischen schmeckt nicht." Roca selbst isst Abalonen am liebsten roh und feingehackt. "Wichtig ist, dass die Fasern durchschnitten werden".

Auch sein Kollege Iñaki Bretal vom Restaurant O Eirado da Leña in Pontevedra kam nach vielen Versuchen zu dem Schluss, dass man die Tiere entweder zweieinhalb Minuten lang dünsten oder bei 80 Grad zwölf Stunden lang kochen muss. Für ihn sind Abalonen noch immer exotisch. Anfang des Jahres servierte er sie erstmals auf Bestellung, denn die exklusiven Tiere werden lebend geliefert und halten im Kühlschrank nicht länger als drei Tage durch. "Da muss man genau kalkulieren", sagt er. Neuerdings nimmt er Abalonen auch ins Degustationsmenü, "um herauszukriegen, wie sie den Gästen am besten schmecken."

Die Delikatesse aus dem Meer findet weltweit in allerlei Zubereitungsformen Zuspruch.
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Raspelzunge und Ohrmuschelhaus

Seeohren sind keine Muscheln, sondern Schnecken. Das heißt, sie ernähren sich nicht durch Filtern des Wassers, sondern fressen wie Landschnecken Grünzeug beziehungsweise Algen. Mit ihrem breiten, muskulösen Fuß saugen sie sich unter Wasser an den Felsen der Küste fest und kriechen auf der Suche nach Nahrung umher. Sie leben in großen Gruppen, haben Hörner, Augen, einen Mund mit Raspelzunge und ein ohrmuschelförmiges Haus, das ihnen den Namen gibt.

Ihre mehr als 60 Arten leben weltweit in gemäßigten Gewässern, vor Südafrika, Kalifornien, den Britischen Inseln, Spanien und Frankreich und vor allem in asiatischen Ländern. Viele Arten sind wegen Schwarzhandels, Schmuggels und unkontrollierten Sammelns ausgestorben oder stehen kurz davor. Auch die europäische Art Haliotis tuberculata ist gefährdet. Ihr Haus hat die Farbe des Meeres. Es ist rau und flach, grau-grünlich oder braun-bläulich und kann bei bestimmten Arten bis zu 30 Zentimeter lang werden. Es bedeckt den gesamten Körper der Tiere.

Das Tier schmeckt köstlich, mal frisch und kühl nach Meer wie Tintenfische oder Jakobsmuscheln mal warm und zart wie Fleisch in sämiger Soße.
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Charakteristisch ist eine Reihe kreisrunder kleiner Löcher, durch die weibliche Tiere Eizellen und männliche Tiere Samen zur Befruchtung ins Wasser abgeben. Und wenn Gefahr droht, stoßen sie durch die Löcher Wasser aus, um sich mit Unterdruck fest an den Fels zu saugen. Dreht man die Tiere um, kann man die Innenseite der Schale erkennen. Sie ist mit auffallend blaugrün schimmerndem Perlmutt überzogen.

Jahrhundertelang sammelten Taucher in Galicien die Tiere, um aus ihren Schalen Schmuck und Knöpfe zu machen. Essen wollte sie niemand, nur die armen Leute und diese auch nur heimlich. Niemand sollte erfahren, dass sie ihren Proteinbedarf mit ziemlich zähen, weil falsch zubereiteten Unterwasserschnecken decken mussten. Heute bezahlen asiatische Feinschmecker viel Geld für eine Abalone auf ihrem Teller.

Eduardo Pérez hat vor mehr als zehn Jahren den Marktwert der Tiere erkannt. 2003 gründete der Biologe mit zwei Studienkollegen das Spin-off-Unternehmen Galician Marine Aquaculture (GMA). Heute züchten sie die Tiere in einer Aquakulturfarm am Meer. Seit vier Jahren steht die Anlage ein paar Hundert Meter von der Küste entfernt, mitten im Grünen in der Nähe des Dorfes Muros.

Nur kein Stress

In mehr als 200 von gereinigtem Meerwasser durchspülten Becken leben unzählige Seeohren der asiatischen Art Haliotis discus hannai. Zu sehen kriegt man sie nicht, denn Haliotis lieben es ja dunkel: Die Bassins sind voller dachziegelförmiger Plastikschalen, unter denen sie sich verstecken. Dreht man die Schalen um, sieht man sie darunter dicht an dicht sitzen. Manche sind nicht größer als ein Daumennagel, andere bedecken schon fast eine Handfläche.

Die Anlage ist nur schwach beleuchtet. Das Wasser hat rund 18 Grad Celsius, einen pH-Wert von 7,8 und einen Salzgehalt von 3,6 Prozent. "Sie brauchen Ruhe und konstante Lebensbedingungen", sagt Eduardo Pérez, "denn wenn sie ihre Energie zum Stressabbau verwenden, wachsen sie langsamer." Das Wasser kommt in dicken Rohren aus dem Meer, durchläuft eine Aufbereitungssanlage und fließt dann in die Becken. "In Galiciens Buchten ist das Meer sehr nährstoffreich", sagt Pérez, "schließlich gedeihen hier die besten Meeresfrüchte der Welt."

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Die Nachfrage nach Abalonen ist so groß, dass sie nun auch gezielt gezüchtet werden.
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Meeresfrucht mit Zukunft

Seit diesem Jahr sind die ersten spanischen Zuchtabalonen auf dem Markt, vorerst nur in der Region. Die ersten Exemplare haben dieses Jahr die Mindestgröße von sechs Zentimetern Länge erreicht und werden bei Iñaki Bretal oder Pedro Roca serviert. Kommendes Jahr sollen die ersten dann gefroren nach Asien exportiert werden. Bestellungen im Wert von 40.000 Euro sind bei Geschäftsführer Luis González schon eingegangen. Doch die Japaner müssen sich gedulden. Eine Abalone braucht mindestens drei Jahre, bis sie Portionsgröße hat. GMA will in ein paar Jahren bis zu 100.000 Kilo Seeohren verkaufen.

Das sind sehr viele Tiere, denn die größten wiegen nicht mehr als hundert Gramm. Bei einem Stückpreis von bis zu 20 Euro wird deutlich, wie gut die Idee der drei Biologiestudenten war. Wenn Eduardo Pérez bei gedimmtem Licht und in aller Stille die Becken kontrolliert, kann er zufrieden sein. Die unscheinbaren Tiere aus der Dunkelheit sichern ihm und seinen 22 Angestellten die Zukunft. (Brigitte Kramer, RONDO, 6.1.2017)