Wien – Das Vereinigte Königreich hat schon seligere Zeiten gesehen. Mit Fragen nach dem Brexit braucht man Madness, der 40 Jahre alten Ska-Band, gar nicht erst zu kommen. Das Herz der Pop-Institution hängt wie eh und je an London. Die sechs Herren von Madness sind kahl und schwer geworden. Die Witze sind tiefer, der Offbeat von Gitarre und Orgel fährt Schritttempo.

So britisch wie das Gurkensandwich: Madness, die Londoner Pop-Institution, hat sich vom Ska wegentwickelt. Ihr neuer Songzyklus ist der betörende Abgesang auf das "alte" London.
Foto: Universal Music

Dafür erheben neuerdings Gospelchöre die Stimme, und das Saxofon, die Trademark aus den alten Two-Tone-Zeiten, hüstelt nervös im Stakkato. Am Spätwerk dieser famosen Band könnte Michael Nyman mit seinem Blasorchester mitgearbeitet haben. Produziert hat aber Clive Langer, der schon in den 1980ern zusammen mit Alan Winstanley den britischen Pop so lange aufpolierte, bis er wie Chrom blitzte.

Can't Touch Us Now heißt die neue Liedersammlung von Madness, ein bezauberndes Requiem, bestehend aus 16 untröstlichen Songvignetten. Sänger Graham "Suggs" McPherson und seine Mitstreiter stehen in Zylindern und Talaren in Camden Town.

Verlust des Spleens

Sie blicken vom Primrose Hill am nördlichen Rand des Regent's Park hinunter auf die umliegenden Bezirke. Noch schwimmt das Königreich in gut verzinstem Kapital. Aber die Lebensart, der Spleen, der trotzige Stolz auf Gurkensandwiches und Boxchampions, ist vor die Hunde gegangen.

Sogar Camden, dem vielbesungenen Heimathieb, haben die Stadtväter jegliche Authentizität ausgetrieben. Unten in Soho ist schon längst nichts mehr so, wie es einmal war. Damals, als "Pam the Hawk" noch die reichste Frau im Londoner Westend war, zahnlos zwar, aber den Zaster aus den Spielhöllen eigensinnig hütend wie Fafner den Nibelungenschatz. Vier Dekaden ist man – mit einigen stilvollen Unterbrechungen – bereits auf der Straße. Die Pressekonferenz zum neuen Album hat man sicherheitshalber vor den Insassen eines Veteranenheims gegeben. Die Grandpas und Grandmas trugen den scharlachroten Rock Ihrer Majestät.

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Die Grauen Panther spielten bereitwillig mit. Stellten höfliche Fragen nach Amy Winehouse, einer lieben Bekannten, der Madness auf dem Album das berührende Abschiedslied Blackbird hinterhermurmeln. Amy stolziert, die Gitarre über der Schulter, mit aufreizendem Gang die Straßen von Soho entlang. Ihr Mascara-Auge zwinkert neckisch dem greisen "Nutty Boy" hinterher.

Sie hätten für ihre Plattenpräsentation nach einer Institution gesucht, die noch älter sei als Madness, sagt Suggs. Außer den Rolling Stones wäre ihnen niemand eingefallen. Also blieben nur die Rentner übrig. Auf den großen Festivals (Glastonbury!) spielen Madness natürlich nach wie vor ihre unverwüstlichen Jukebox-Klassiker: One Step Beyond, Baggy Trousers, Our House. Ska, dieser famose Import zackiger jamaikanischer Musik mit dem Bums auf die Zwei und die Vier, ist für sie heute nur noch von untergeordneter Wichtigkeit.

Der Soul als Labsal

Eher schon hört man heute ein Stride-Piano, oder die Melancholie des frühen Lebensabends wird in Northernsoul ertränkt. Can't Touch Us Now erzählt vom Ende der Geschichte, wie die Briten sie noch bis vor kurzem kannten. Heute führen respektable Stützen der Gesellschaft wie "Mr. Apples" ein Doppelleben, das sie spätnachts auf die "wrong side of town" hinübertaumeln lässt.

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Und wieder bewundert man offenen Mundes die Madness-Manier, Killer-Hooklines beliebig nach Dur und Moll zu modulieren. Sie bauen in manchen ihrer Songs Brücken, die andere gerne als Refrain verwenden würden. Ihre Musik ist komplett erwachsen geworden. Sie handelt davon, sich unter keinen Umständen unterkriegen zu lassen. Die kleinen Angestellten des Turbokapitalismus, die nicht zum Atmen kommen, belächeln sie liebevoll. Ihr Offbeat sagt: Übertreibe es nicht mit dem Tempo! Be stiff.

1979, erzählte Suggs einmal, seien Madness von ihrer ersten Welttournee zurück nach Heathrow gekommen. Tausende Mädchen hätten kreischend auf sie gewartet. Während sie sich noch an dem Schauspiel ergötzten, sei der Mob plötzlich über sie hinweggestürmt. Nebenan waren Duran Duran gelandet. Die bekamen natürlich alle Mädchen ab. Doch nur wer solche Erlebnisse verarbeiten kann, besitzt die Kapazität für ein Meisterwerk wie Can't Touch Us Now. (Ronald Pohl, 23.11.2016)