Thematisiert im Buch auch die Geschichte seines Vaters, der im Deutschen Reich den Holzhandel arisierte: Christian Reder.


Foto: heribert corn

Christian Reder, "Deformierte Bürgerlichkeit." € 24,90 / 300 Seiten. Mandelbaum, Wien 2016

Cover: Mandelbaum

Deformierte Bürgerlichkeit nennt der ehemalige Professor für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst, Autor und Förderer von Kunst und Wissenschaft Christian Reder seine Berichte um die Zusammenhänge seines Familienumfeldes mit Zeitgeschichte.

Provokant lässt sich fragen, ob die deformierte Bürgerlichkeit nicht ein Pleonasmus ist und die Vorstellung eines theoretisch und historisch vielbesprochenen Ideals des Bürgertums lediglich zwischen Buchdeckeln und in Zeitungsartikeln existiert.

Reder meint jedoch hier eine besondere Deformation, jene, die durch den Ersten Weltkrieg bedingt war, aber vor allem jene durch den Nationalsozialismus, in dem sein Vater Franz Reder an maßgeblicher Stelle für die Arisierung des Holzhandels im Deutschen Reich zuständig war und durch den Aufstieg vom Prokuristen zum Partner der renommierten Holzgroßhandlung seines Onkels wohlhabend werden konnte.

Mangelnde Schuldeinsicht

Deformierte Bürgerlichkeit ist eine in fünf größere Kapitel gegliederte Mischung aus Familienbiografie, autobiografischen Erzählungen, historischer Recherche, politischer Manifestation, zeitkritischer Betrachtung und manchmal auch rechtfertigender Distanzierung, deren es eigentlich nicht bedarf. Die einzelnen Artikel spannen sich, ohne dabei streng chronologisch geordnet zu sein, grob gesprochen über das 20. Jahrhundert. Die Auswahl und Druckqualität des Bildmaterials (schwarz-weiß) ist nicht gelungen, lieber weniger als mehr; und warum immer wieder Buchcover abgebildet werden, ist nicht nachvollziehbar.

Christian Reder, 1944 in Budapest geboren, wächst in einem (post)nationalsozialistischen Milieu – ohne jede Schuldeinsicht – in Wien auf, in dem die Weggefährten vor allem des Vaters aber auch der Mutter präsent sind, und gewissermaßen den parafamilialen Rahmen bilden. Grundlage, oder besser Ausgangspunkt für diesen Versuch einer einordnenden und in zeithistorische Beziehung setzenden Familiengeschichte sind einerseits die biografischen Notizen Franz Reders (1903-1990), die dieser als 80-Jähriger 1983 aufgrund der Anregung seines Sohnes Christian niederschrieb, und andererseits Dokumente, die erst nach dem Tod seiner Mutter Eva (1922-2007) zugänglich waren.

Die biografischen Notizen, aus denen immer wieder zitiert wird, befinden sich im Privatarchiv Christian Reders, und als Leserin und vor allem Historikerin wünsche ich mir eine quellenkritische Publikation dieser Notizen, vielleicht in einer zweiten Auflage als Anhang oder eigener Band. Denn wiewohl da und dort daraus zitiert wird, bleibt unklar, wie umfangreich diese Aufzeichnungen sind, welchen Zeitraum sie umfassen, was thematisiert wird, was nicht.

Ausgehend von persönlichen Zusammenhängen, entwickelt Christian Reder zeithistorische und beginnt dort zu recherchieren, nachzufragen, wo manches fehlt oder in Vergessenheit geraten ist. Zum Beispiel in Sachen Emil Oswald (1897-1964), über den Reder bereits 2014 in der Publikation zur Ausstellung Parallelspuren | Párhuzamos Nyomok. Budapest/Wien – 1914/2014 geschrieben hat.

Oswald der, wiewohl nicht verwandt mit den Reders, für Christian ein Onkel war, von dem er die ersten Jazzplatten bekam, der noch Monokel trug, der außergewöhnlich war und jedenfalls der Einzige im familiären Umfeld, der in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald inhaftiert war – ein KZler.

Oswald stammte aus Pinkafeld, war Offizier im Ersten Weltkrieg, ein Gefolgsmann Kaiser Karls, unterstützte diesen 1921 bei dessen Restaurationsversuchen in Ungarn und agierte als Vizepräsident des legitimistischen Reichsbundes der Österreicher. Oswald war auch in der Widerstandsbewegung O5 tätig, und hier zeigt Reder auch ein Stück weit, wie Geschichtsschreibung, wie Geschichtsdeutung funktioniert, denn in den meisten Darstellungen des österreichischen Widerstands kommt Emil Oswald nicht vor oder wird, wenn gar, nur am Rande erwähnt.

Die Deutungshoheit übernehmen letztlich jene, die noch am Leben sind, und was die Bedeutung des Widerstands und hier der Gruppe O5 betrifft, insbesondere die Brüder Molden, medial unterstützt durch Hugo Portisch und Österreich II. In der Wissenschaft und im Bildungsbereich hingegen ist schon lange klar, dass das Großschreiben des Widerstands nach 1945 zwar durchaus nachvollziehbare innenpolitische Gründe hatte, aber dieser in keiner Weise die Bedeutung hatte, die so mancher gerne gesehen hätte.

Wissensresistente

Auch die Schulbuchidealisierung des Widerstands, wie Reder schreibt, gibt es schon lange nicht mehr, wie ein Blick in die Unterrichtslektüre und in Onlinemedien wie erinnern.at zeigt. Selbstverständlich gibt es bis heute einige Unbelehrbare und Wissensresistente, die noch immer, wie Reder es nennt, an der konfusen Mythenbildung festhalten, meist verbunden mit einer antisemitischen Note. Und bis heute ist es leider so, dass im Opferfürsorgegesetz zwischen aktiven (die WiderstandskämpferInnen) und passiven (z. B. Juden und Jüdinnen) Opfern unterschieden wird, durchaus auch mit finanziellen Nachteilen für die "passiven" Opfer.

Doch wie verirrte sich Onkel Emil in den nationalsozialistisch geprägten Reder'schen Freundeskreis? "Nach fast drei Jahren KZ-Haft wurde Emil Oswald von 1941 bis zum Kriegsende von meinem Vater, dem Geschäftsführer und Teilhaber der von 1831 bis 1981 in dieser Form bestehenden Wiener Holzgroßhandlung J. & C. Reder, als Verkaufsleiter beschäftigt, weil sie sich sofort sympathisch waren, wie es hieß. [...] Oswalds damit ausgewiesene oppositionelle Haltung (gemeint ist seine KZ-Inhaftierung) war aber kein Hindernis einer beginnenden Familienfreundschaft." Eine, wie ich meine, dürftige Erklärung, die die Leserin doch etwas ratlos mit der Erzählung über den unbeirrbaren nationalsozialistischen Vater zurücklässt, dem der Neuländer Alfred Missong noch 1959 in einem Brief "die Verstocktheit der Unbelehrbaren von gestern" vorwarf.

Bund Neuland

Stichwort Neuländer: Der Bund Neuland spielt in der Familie Reder eine strukturierende Rolle. Der Vater, in seiner Jugend von Neuländern wie Otto Schulmeister, Franz König aber auch Otto Mauer geprägt, setzt die Tradition fort, und er und seine Frau schickten den Ältesten 1950 in die Neulandschule, die beiden jüngeren Geschwister ins Lycée Français.

Der Bund Neuland wurde 1919 gegründet, ging aus der katholischen Jugendbewegung hervor und propagierte eine neue christliche Lebensform, die sich vor allem naturverbunden und familienfreundlich zeigen sollte. Grob gesprochen teilten sich die Neuländer nach dem "Anschluss" im März 1938 in Nationalsozialisten – die größere Gruppe – und deren Gegner, die sich zurückzogen.

Nach 1945 etablierte sich neben der Bündestruktur in der ÖVP eine Gegnerschaft zwischen CV und Neuländern, dann noch verbunden mit der aus dem Bund Neuland hervorgegangen katholischen Hochschulgemeinde (KHG), die bis in die 2000er-Jahre hineinreicht und deren politische Bedeutung bis heute grob unterschätzt wird. "Das kinderfreundliche Klima der Neulandschule ist mir in weit besserer Erinnerung als die lähmenden Zeiten im Gymnasium" resümiert Christian Reder seine Neulandvergangenheit.

Und mit dem NS-Kriegsverbrecher Walter Reder, den der damalige Verteidigungsminister der SPÖ-FPÖ-Koalition Friedhelm Frischenschlager 1985 bei dessen Rückkehr nach Österreich per Handschlag begrüßte, hat Reder nur einen gemeinsamen Urururgroßvater aus Steyr, aber persönlich hat ihn in der näheren Familie niemand gekannt. Lesen Sie mehr darüber in Deformierte Bürgerlichkeit, denn der Autor schreibt über Walter Reder und Marzabotto und über vieles mehr. (Eva Blimlinger, Album, 26.11.2016)