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Künstlerin mit Heilsversprechen und dem Marina Abramović Institute (MAI): "Mit 'The Artist Is Present' habe ich angefangen, Leute zu erreichen, die sonst nicht ins Museum gehen würden."

Foto: APA/EPA/GEORGIOS KEFALAS

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Marina Abramović mit dem Schauspiel-Künstler James Franco: "Die Leute standen für die MoMA-Austellung 'The Artist Is Present' täglich stundenlang Schlange, darunter eben auch Stars wie James Franco und Lady Gaga.

Foto: APA/EPA/JUSTIN LANE

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2010 saß sie drei Monate lang im MoMA unzähligen Besuchern bewegungslos gegenüber: "Als ich mich am letzten Abend von diesem Stuhl erhob, hatte sich alles für mich verändert."

Foto: AP/Mary Altaffer

Ihre Performances ziehen heute auf der ganzen Welt tausende von Besuchern an. Es ist ein Publikum, das längst über den Kreis von Kunstinsidern hinausreicht. Regisseure wie Robert Wilson haben mit ihr und über sie Theaterstücke inszeniert und Popstars wie Lady Gaga für ihre Workshops geworben. Ihre auch auf Deutsch erscheinende Autobiografie Durch Mauern gehen gilt dementsprechend schon jetzt als Pflichtlektüre.

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Künstlerin mit Heilsversprechen: Marina Abramović, hier auf einem Foto von 2014, wird am 30. November 70 Jahre alt – "das Empfinden von Schmerz ist wie ein Schritt durch eine Tür".
Foto: APA/EPA/STR

Das Interview sollte eigentlich in Marina Abramovićs New Yorker Büro in Tribeca stattfinden. Aber da die Künstlerin ihr Knie tags zuvor einer Rosskur unterzogen hat und sie sich nicht viel bewegen darf, wird das Treffen kurzfristig zu ihr nach Hause verlegt. Abramović schwört auf Alternativmedizin, und der Umstand, dass das Verfahren, das ihre Gelenkprobleme ein für alle Mal lösen soll, normalerweise bei Rennpferden angewendet wird, gefällt ihr. Nun sitzt sie in legerer schwarzer Kleidung und mit hochgelagertem, in Eis gepacktem Bein auf einem L-förmigen Sofa in ihrem ebenfalls L-förmigen Loft. Sie ist bester Dinge. Als Profi steckt sie die Schmerzen weg. Sie ist herzlich und entspannt, auf entwaffnende Art eitel und stolz auf ihre Arbeit.

STANDARD: Sie haben Ihre Autobiografie "Durch Mauern gehen" Ihren Freunden und Feinden gewidmet. Wer sind Ihre Feinde?

Abramović: Das ist interessant. Es wechselt ständig. Bei den meisten meiner Feinde handelt es sich um Leute, denen ich nur aus verzerrten Darstellungen in den Medien bekannt bin. Sobald sie eine meiner Performances besuchen oder mich kennenlernen, verwandeln sie sich in gute Freunde. Meine guten Freunde wiederum werden daraufhin eifersüchtig und verwandeln sich in Feinde. Eifersucht ertrage ich nicht. Das geschieht immer wieder, und es macht mich traurig. Aber ich nehme an, so ist das Leben.

STANDARD: Sie eröffnen Ihr Buch mit der Erinnerung an einen Waldspaziergang, bei dem Sie als Vierjährige mit Ihrer Großmutter auf eine Schlange stießen. Es sei das erste Mal in Ihrem Leben gewesen, dass Sie Angst empfunden hätten ...

Abramović: Ich hatte Angst, aber nicht vor der Schlange, sondern weil meine Großmutter aufschrie und mich zurückriss, als ich diesen Stock auf dem Weg berühren wollte. Ich wusste ja nicht, dass es eine Schlange war und dass man sich vor Schlangen fürchten muss. Was man nicht kennt, fürchtet man nicht, nicht als Kind. Das lernt man erst später. Ich hatte von da an tatsächlich Angst vor Schlangen. Doch war ich zugleich neugierig auf diese merkwürdigen Tiere, um die sich so viele Geschichten ranken.

STANDARD: Tauchen Schlangen deshalb häufig in Ihren Arbeiten auf?

Abramović: Schlangen gehören zu meiner DNA. Meine Mutter hat mir immer wieder erzählt, dass sie in der Nacht vor meiner Geburt träumte, sie würde eine riesige Schlange zur Welt bringen. Meine erste Performance mit einer Schlange fand in einer Galerie mit Ulay statt ...

STANDARD: ... der deutsche Künstler Frank Uwe Laysiepen, genannt Ulay, war zwischen 1976 und 1988 Ihr Lebens- und Arbeitspartner.

Abramović: Wir krochen mit einer ein Meter zwanzig langen Python auf dem Boden der Galerie herum. Ich wollte wissen, ob sich die Schlange einem von uns beiden nähern würde. Und wie in der Bibel kam sie direkt zu mir. Es gab einen Moment, in dem sie die Zunge ausstreckte und ich ebenfalls. Wir berührten uns beinahe. Die Angst war immer noch tief in mir drinnen. Ich habe Schlangen in mein Werk integriert. Heute kann ich sagen, dass ich mich nicht mehr vor ihnen fürchte.

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Marina Abramović vor einer Fotoserie einer früheren Performance: "Man findet sich mit dem Altern des Körpers ab. Man hüpft nicht mehr jeden Tag frisch aus dem Bett, sondern hat Schmerzen im Rücken oder im Knie. Aber ich achte auf meine Gesundheit."
Foto: APA/EPA/JORGE ZAPATA

STANDARD: Betrachten Sie Ihre Arbeit als Mittel, um Ihre Ängste zu überwinden?

Abramović: Meine Kindheit war voller Ängste. Meine größte Angst bestand darin zu verbluten. Ich litt an einer Blutkrankheit, die mich beim kleinsten Ritzer meiner Haut endlos bluten ließ. Als mir einer meiner Milchzähne gezogen wurde, musste ich drei Monate lang im Sitzen schlafen, weil ich sonst am Blut in meinem Hals erstickt wäre. Deshalb schnitt ich als Erstes meinen Körper auf, als ich mit meinen Performances begann. Damals nannte man das "Körperkunst", weil der Körper als Material diente. Ich wollte sehen, was dieser Körper verbarg, und ihn bluten lassen, um meine größte Angst zu bezwingen.

STANDARD: Dann waren Ihre frühen Performances also eine Art Exorzismus?

Abramović: Der Exorzismus war ein Teil davon. Dazu gehörte der fünfzackige Stern ...

STANDARD: ... einen solchen ritzten Sie sich einmal in den Bauch, während Sie auf Eisblöcken lagen, ein andermal legten Sie sich in ein Feuer in Form des fünfzackigen Sterns.

Abramović: Der Stern war das Symbol des Kommunismus. Er stand für das repressive System, unter dem ich aufgewachsen bin. Das musste ich loswerden. Aber wichtiger war die Idee dahinter. Mich interessierte der Körper, dieses schwerfällige Vehikel, das in so vielen Kulturen unterschiedlichen und oft beinahe tödlichen Ritualen unterworfen wird. Immer sind damit starke Schmerzen verbunden. Ich begriff von Anfang an, dass das Empfinden von Schmerz dem Schritt durch eine Tür gleicht, der das Bewusstsein verändern kann. Ich wollte wissen, was sich auf der anderen Seite dieser Tür befindet. Ich bin bereit, dafür an die äußerste Grenze zu gehen, aber nie zu weit.

STANDARD: Sie begaben sich wiederholt in Lebensgefahr. In einer Performance 1974 ließen Sie sich sechs Stunden lang vom Publikum mit 72 Gegenständen traktieren, darunter Nadeln, Messer und eine Pistole mit einer Kugel.

Abramović: Das war tatsächlich gefährlich, weil ich die Leute nicht kontrollieren konnte. Aber ich wollte mit dieser Arbeit etwas Bestimmtes zeigen. Damals hielt man nicht nur meine, sondern auch die Performances von anderen Künstlern für masochistische oder exhibitionistische Vorstellungen. Mich ärgerte, dass die Leute die verschiedenen Bedeutungsebenen nicht erkannten. Deshalb drehte ich den Spieß um: Was, wenn ich gar nichts tue, wenn ich passiv bin und stattdessen das Publikum agieren lasse? Siehe da: Nun führten die Leute selbst aus, wofür sie mich zuvor kritisiert hatten.

STANDARD: Am Ende waren Sie in schlimmer Verfassung.

Abramović: Aber das Risiko hatte sich gelohnt: Ich bewies, dass das Publikum durchaus in der Lage ist, mich töten. Ich selbst werde mich jedoch nie umbringen.

STANDARD: Die Opernsängerin Maria Callas ist zumindest auf der Bühne viele Tode gestorben. Weshalb fasziniert Sie diese tragische Heldin seit Ihrer Kindheit?

Abramović: Wir haben viele Gemeinsamkeiten. Sie war wie ich Schütze. Sie hatte wie ich eine fürchterliche Mutter. Ihr Leben war voller Herzschmerz wie meines. Und dann die physische Ähnlichkeit (greift zum iPad und zeigt Aufnahmen von sich neben solchen von Maria Callas, auf denen sie in der gleichen Haltung posiert. Die Ähnlichkeit ist verblüffend). Diese tiefe Traurigkeit, die Augen, die Nase – verrückt! Und ich habe wie Maria Callas immer die falschen Männer erwischt.

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Für ihre Performance "Balkan Baroque" wurde Abramović 1997 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet: "Es stank bestialisch in diesem Keller und war drückend heiß."
Foto: Andrea Merola-ANSA / REUTERS

STANDARD: Welche Rolle haben diese Männer in Ihrem Leben gespielt?

Abramović: Mein Gott, war ich eine Idiotin. Ich bin so romantisch und in vieler Hinsicht hoffnungslos naiv. Ich habe immer wieder dasselbe Muster durchlaufen und bin dabei fast gestorben. Aber ich habe daraus gelernt, auf die harte Tour. Niemand auf der ganzen Welt wird mir je wieder das Herz brechen. Maria Callas ist hingegen an ihrem gebrochenen Herzen gestorben. Als Hommage an sie arbeite seit 30 Jahren an einem Film, der nun endlich zustande kommen wird. Er heißt The Seven Deaths, Die sieben Tode. Dazu habe ich diesen kleinen Text geschrieben (greift zum iPad): "Mach einen Film, der länger dauert als der Rest deines Lebens."

STANDARD: Wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Abramović: Ich werde mich als Carmen, die erstochen wird, inszenieren, als Tosca, die sich in den Tod stürzt, als Desdemona, die in Othello erdrosselt wird, Norma, die verbrennt, Aida, die erstickt, Madame Butterfly, die Harakiri begeht, und als Violetta, die in La Traviata an Schwindsucht stirbt. Alle diese Frauen waren Opfer der Liebe. Diese sieben Tode werden vermutlich die letzten vor meinem eigenen sein.

STANDARD: Haben Sie die Nase nicht langsam voll von Selbstzerfleischung und Sterberei?

Abramović: Doch. Deshalb muss ich diesen Film noch machen. Danach werde ich mit dem Sterben aufhören und mit dem Leben beginnen. Meine Großmutter sagte: Wenn du 70 bist, kannst du das Leben erst richtig genießen.

STANDARD: Sie werden am 30. November 70.

Abramović: Ich fühle mich, als würde ich eine alte Haut ablegen. Deshalb war mir das Schreiben meiner Autobiografie so wichtig. In diesem Buch habe ich meine Erinnerungen versammelt, damit ich nicht mehr daran denken muss. Ich war nie jemand, der sich mit der Vergangenheit herumschlug. Jetzt bin ich auf das konzentriert, was noch kommt.

STANDARD: Wie genießen Sie das Leben?

Abramović: Mit Essen, in der Natur, damit, Fremdes zu erkunden. In dieser neuen Periode meines Lebens werde ich wieder zu meiner kindlichen Neugier zurückkehren – und zu meinem Humor. Ich habe viel Humor. Leute, die mich nicht kennen, sind immer überrascht. Ich sollte Clown werden oder Stand-up-Komikerin. Ich werde mich zuerst natürlich über mich selbst lustig machen und dann über die Welt, in der wir leben, über diese riesige Soap-Opera. Meine Freunde wissen, dass ich über pechschwarzen Humor verfüge. Nur will meine Witze in den USA niemand hören. Hier sind alle zu politisch korrekt dafür. Mein amerikanischer Verleger zwang mich sogar, Passagen zu streichen.

STANDARD: Sie meinen die Stelle, die bereits vor dem Erscheinen des Buches durchsickerte und für Wirbel sorgte, weil Sie darin Aborigines mit Dinosauriern verglichen?

Abramović: Ja. Ich bin noch immer bestürzt darüber, dass dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen und ich als Rassistin beschimpft wurde. Ich bewundere die Aborigines. Ich habe ein Jahr lang bei ihnen gelebt. Sie haben mein Leben verändert. Dinosaurier sind eine ausgestorbene Gattung, und wir sind dabei, die Aborigines ebenfalls auszulöschen. Das wollte ich sagen. Wahrscheinlich sollte ich nach meinem 70. Geburtstag einen Dinosaurier zu meinem Avatar machen. Oder noch besser, ich werde selbst zu einem Dinosaurier.

STANDARD: Wie kommen Sie mit dem Altern Ihres Körpers zurecht, der so lange Ihr wichtigstes Arbeitsmaterial war?

Abramović:. Man findet sich ab. Man hüpft nicht mehr jeden Tag frisch aus dem Bett, sondern hat Schmerzen im Rücken oder im Knie. Ich achte sehr auf meine Gesundheit. Jetzt fahre ich wieder für einen Monat zu einer Ayurveda-Kur nach Indien. Das mache ich jedes Jahr. Der Ort ist eine Mischung aus Kloster, Sanatorium und Gefängnis. Zum Frühstück kriegt man einen halben gekochten Apfel, und wenn man sehr hungrig ist, geben sie einem die zweite Hälfte. Ein Freund von mir ergriff nach fünf Tagen die Flucht. Für mich ist das das Richtige.

STANDARD: In "Durch Mauern gehen" beschreiben Sie, wie sehr Sie sich früher Ihrer großen Nase und Ihres Popos wegen schämten. Haben Sie sich daran gewöhnt?

Abramović: Vollkommen. Es wäre grauenhaft, wenn ich eine Brigitte-Bardot-Nase hätte, wie ich sie mir damals so sehr wünschte. Mein Äußeres ist mir aber keineswegs egal. Mein Haar habe ich bereits mit 25 schwarz zu färben begonnen. Graue Haare mag ich nicht, und die Shampoos von heute vollbringen Wunder. Außerdem bin ich ein freiwilliges Versuchskaninchen für sämtliche Schönheitscremes der Welt. Ich probiere alles aus. Sie sehen: Man tut, was man kann.

STANDARD: Wurden Sie als Frau im Kunstbetrieb je anders behandelt als Ihre männlichen Kollegen?

Abramović: Für mich hat dieser Unterschied nie existiert. Sobald ich eine Performance beginne, verlasse ich meinen weiblichen Körper und werde zum Körper schlechthin. Als Frau wurde ich jedoch neulich vehement angegriffen, als ich sagte, ich hätte drei Abtreibungen gehabt und nie Kinder gewollt. Und zwar hauptsächlich von Frauen. Einzig ein Professor aus Ex-Jugoslawien verteidigte mich. Der sagte, George Clooney habe auch nie Kinder gewollt und drei Oscars gekriegt. Als sei es noch immer die Pflicht von Frauen, Kinder und einen Ehemann und eine Familie zu haben!

STANDARD: Mit George Clooney haben Sie auch den Star-Status gemeinsam. Wie kann Ihr Werk, das so untrennbar mit Ihnen als Akteurin und Figur verbunden ist, unabhängig von Ihnen weiterexistieren?

Abramović: Ich habe das Berühmtsein nicht gesucht. Das Publikum und die Medien haben mich zum Star gemacht, und jetzt kritisieren sie mich dafür. Das ist paradox! Am Anfang meiner Karriere bestand mein Publikum aus höchstens vierzig Leuten. Dann fing ich an, mit Ulay zu arbeiten, und es wurden ein bisschen mehr. Eine hermetische Situation: Ulay und ich auf der einen Seite und auf der anderen das Publikum, das zuschaute. Ich glaubte daran, dass zwei Egos zu einem verschmelzen können und dass diese Beziehung ewig dauern würde. Aber Ulay verließ mich, und ich wurde wieder zu meiner einzigen Figur. Nach und nach hat das Publikum Ulay ersetzt. Wie in The Arist Is Present.

STANDARD: Dafür saßen Sie 2010 im New Yorker Museum of Modern Art drei Monate lang, sechs Tage die Woche, sieben Stunden am Tag bewegungslos auf einem Stuhl, ohne zu essen und zu trinken. Besucher wurden eingeladen, sich Ihnen einzeln gegenüberzusetzen.

Abramović: Die Leute standen dafür täglich stundenlang Schlange, darunter Stars wie James Franco und Lady Gaga. Als ich mich am letzten Abend von diesem Stuhl erhob, hatte sich alles für mich verändert, künstlerisch und auch, was meinen gesellschaftlichen Status betrifft. The Artist Is Present war ja mit einer Retrospektive im Museum of Modern Art verbunden. Ich hatte beides mit einem Assistenten organisiert. Seither brauche ich sechs. Ich erhalte täglich 150 E-Mails und werde mit Angeboten überhäuft.

STANDARD: Warum ist das so?

Abramović: Mit The Artist Is Present habe ich angefangen, Leute zu erreichen, die sonst nicht ins Museum gehen würden. Es sind Leute aus allen Schichten und Lebenslagen. Sie wollen Teil von etwas werden. Diese Möglichkeit biete ich ihnen. Allerdings realisierte ich nach The Artist is Present, dass ich immer mehr zu einer Gefahr für mein eigenes Werk wurde, weil die Leute derart auf meine Person fixiert sind, dass sie die Erfahrung, die ich ihnen ermögliche, gar nicht mehr wahrnehmen. Stattessen wollen sie Selfies mit mir oder Autogramme. Damit zerstöre ich meine eigene Arbeit! Also muss ich ein System kreieren, in dem ich mehr und mehr in den Hintergrund trete, damit das Publikum nicht durch meine Anwesenheit abgelenkt wird und wieder zu seiner eigenen Erfahrung findet.

STANDARD: Was meinen Sie mit "Erfahrung"?

Abramović: Nach The Artist Is Present habe ich in der Serpentine Gallery in London 512 Hours (512 Stunden) gemacht. Es bestand aus Stille. Ich bot dem Publikum nichts als Kopfhörer, die jeden Laut abblockten. Ein kleiner Junge kam und sagte: "Die funktionieren nicht." Dabei ging es genau darum, nichts zu hören. Der Junge war zwölf und kam daraufhin jeden Tag. Als ich ihn fragte, warum, sagte er: "Ich bin sehr schlecht in der Schule. Aber wenn ich hier in der Stille stehe und dann nach Hause gehe und mich mit geschlossenen Augen in die Mitte meines Zimmer stelle, dann weiß ich, dass alles gut werden wird."

STANDARD: Durch Stille zum Optimismus?

Abramović: Ich folge immer meiner Intuition. An billiger Unterhaltung bin ich nicht interessiert. Ich will Menschen zutiefst bewegen. Ich will sie ihre Gefühle fühlen und ihre Mitte finden lassen. Wenn wir mit der Technologie so weiter machen wie bisher, wenn wir durchs Leben rasen, werden wir aufhören, Menschen zu sein. Der einzige Weg, diesen Wahnsinn zu überleben, besteht darin, sich aufs eigene Selbst zu besinnen. Hier, das war in Athen, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise (greift wieder zum iPad und zeigt ein Foto, auf dem sie von einer riesigen Menge umgeben ist, in der sich alle mit geschlossenen Augen an den Schultern berühren).

STANDARD: Und worum ging es da?

Abramović: Ich hatte das Publikum gebeten, an einem bestimmten Tag zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Benaki-Museum zu kommen. 3000 erschienen, um sich in völliger Stille um mich herum zu versammeln. Insgesamt besuchten meine Ausstellung 54.000 Leute. Bis dahin hatte der Besucherrekord des Museums bei 20.000 gelegen, und das war für eine Goya-Ausstellung gewesen. Es macht mich ungeheuer glücklich, das Vertrauen von so vielen Menschen zu genießen.

STANDARD: Messen Sie Ihren Erfolg an der Zahl der Besucher?

Abramović: Natürlich nicht. Aber es sind tatsächlich Massen (scrollt auf ihrem iPad durch Statistiken und Fotos): hier, Australien, 32.000 Besucher in zwölf Tagen, das ist die Schlange vor dem Museum. In Brasilien, 3000 Besucher in zwei Tagen, 200.000 insgesamt.

STANDARD: Sie klingen wie ein Guru, der sich über die wachsende Mitgliederzahl seiner Sekte freut.

Abramović: Es ist ein Unterschied, ob Sie einen Tempel bauen und darin Yoga oder etwas Ähnliches veranstalten oder ob Sie aus der Kunst kommen. Mein Zusammenhang ist die Kunst. Ich kann nicht verhindern, wenn man etwas anderes auf mich projiziert. Ich bin Künstlerin. Mein Werkzeug sind Performances. Das ist alles.

STANDARD: Wie sehen Sie heute die blutigen Spektakel, die Sie früher veranstaltet haben?

Abramović: Ohne sie wäre ich nicht, wo ich heute bin. Diese körperlichen Dramen standen am Anfang meines Weges zur Seele. Es waren einfache Übungen, sowohl fürs Publikum als auch für mich. Das Publikum wollte und bekam etwas Aufregendes zu sehen, und ich begab mich zwanzig Minuten oder eine Stunde oder vier Stunden lang in Gefahr oder fügte mir Schmerzen zu. Ruhe zu finden ist unendlich viel schwieriger. Langzeitwerke, in denen es um Konzentration und Stille geht, verlangen viel mehr Willenskraft und körperliche Ausdauer. Dafür habe ich die Abramović-Methode entwickelt und das Maria Abramović Institute, das MAI, gegründet.

STANDARD: Worin besteht diese Methode?

Abramović: Ich lasse die Leute in Workshops Reiskörner oder Linsen zählen oder eine leere Wand anstarren. Sie dürfen für eine gewisse Zeit weder sprechen noch essen. Sie werden in den Wald geführt und müssen mit verbundenen Augen wieder hinausfinden. Das Publikum wird damit auf die Teilnahme an Langzeitwerken vorbereitet – nicht nur an meinen Langzeitwerken, sondern auch an solchen junger Künstler, die ich unterrichte. Es lernt, sich auf immaterielle Kunst, auf Erfahrung schlechthin einzulassen.

STANDARD: Dann verkaufen Sie also Erfahrungen in Form von Workshops?

Abramović: Meine Performances können Sie sich tatsächlich nicht wie Bilder an die Wand hängen. Aber Sie können eines meiner transitorischen Objekte kaufen. Die betrachte ich nicht als Skulpturen, sondern als Instrumente der Abramović-Methode: Die Leute können jeden Morgen vor ihrem Frühstückskaffee ihre Stirn, ihr Herz und ihren Magen an eines meiner Kristallkissen pressen, um einen Energieraum zu schaffen. Sie können mit nackten Füßen in ein Paar meiner 70 Kilo schweren Amethyst-Schuhe schlüpfen und damit zwar nicht körperlich, aber dafür geistig abheben. Ist das geschehen, brauchen sie diese Objekte nicht mehr. Deshalb nenne ich sie "transitorisch", "vorläufig", "vorübergehend".

STANDARD: Verdienen Sie damit Ihr Einkommen?

Abramović: Als ich mit meinen Performances begann, kam ich gar nie auf den Gedanken, dass ich je von meinen Arbeiten würde leben können. Ich wollte auch nicht, dass meine Kunst zur Ware wurde. Deshalb unterrichtete ich 25 Jahre lang an verschiedenen Kunstakademien auf der ganzen Welt, in Berlin und Paris ebenso wie in Kitakyushu in Japan. Nun veranstalte ich meine Workshops, halte Vorträge, ich mache Fotografien und Videoinstallationen und habe sieben Galerien, die mich vertreten. In den vergangenen 20 Jahren konnte ich davon meine Elektrizitätsrechnung bezahlen. Aber ich werde niemals wie Urs Fischer oder sonst einer dieser Künstler mit einer einzigen Skulptur 20 Millionen Dollar verdienen. Die Hauptsache ist, dass ich mit meiner Arbeit fortfahren kann.

STANDARD: 1997 wurden Sie auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für Ihre Performance "Balkan Baroque" ausgezeichnet. Dafür saßen Sie vier Tage lang sieben Stunden täglich im Keller eines Palazzos auf einem Haufen aus 2000 blutigen Rinderknochen, die Sie sauberschrubbten.

Abramović: Es stank bestialisch in diesem Keller und war drückend heiß.

STANDARD: In Ihrer Dankesrede sagten Sie: "Ich bin nur an einer Kunst interessiert, die die Ideolo-gie einer Gesellschaft verändern kann ... Kunst, die sich allein ästhetischen Werten verpflichtet, ist unvollständig." Wollen Sie mit Ihrer Kunst die Welt verändern?

Abramović: Das ist mein Ziel. Schauen Sie sich doch um: Un-sere Politiker sind korrupte, sexbesessene, vulgäre Lügner. Worauf warten wir? Auf einen zweiten Gandhi, der von Frieden spricht? Wir müssen uns selbst bewegen, wenn wir etwas bewegen wollen. Kritisieren allein nützt nichts. Ich weiß nicht, ob ich auch nur drei Leute dazu bringen kann, sich selbst und dann ihre Umgebung zu verändern. Aber drei wären schon viel mehr als niemand.

STANDARD: Sind Sie glücklich?

Abramović: Ja. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, war ich nie in einer besseren Lage als jetzt. Erst vor kurzem traf ich meine alte Freundin Laurie Anderson ...

STANDARD: ... die amerikanische Künstlerin-Komponistin-Musikerin ...

Abramović: Bisher reisten wir beide so viel herum und waren ständig so beschäftigt, dass wir ewig brauchten, um uns überhaupt einmal zu sehen. Jetzt wollen wir das öfter tun, ohne es lange zu planen, einfach einmal spontan zusammen brunchen, plaudern, abhängen. Dafür fehlte mir früher die Zeit. Der größte Luxus für mich ist, sonntags im Bett zu frühstücken und die Zeitung zu lesen.

STANDARD: Sie haben auch Ihre Beerdigung bereits genau geplant. Wird das Ihre letzte große Performance werden?

Abramović: Ja. Meistens wird nach unserem Tod etwas für uns organisiert, das wir nie im Leben gewollt hätten. Ich habe dafür gesorgt, dass mir das nicht passiert. Bis dahin aber werde ich mich dem Vergnügen, meinen Freunden und sämtlichen Freuden des Alltags widmen. (Sacha Verna, Album, 26.11.2016)