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Welche "österreichischen" Werte sind gemeint, die Zuwanderer übernehmen oder akzeptieren sollen? Gehören Kruzifixe in der Schule oder Gipfelkreuze auf dem Berg auch dazu?

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Philosoph Matthias Schloßberger: "Die Verpflichtung zu einer Anerkennung führt niemals zu echter Überzeugung von dem Wert, um den es geht."

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STANDARD: Spätestens seit der Ankunft der großen Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 haben "Werte" zumindest rhetorisch Hochkonjunktur. ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka sagte unlängst bei einer Enquete zur "Leitkultur", dass von in Österreich lebenden Muslimen zu erwarten sei, dass sie christliche Symbole in Klassenzimmern oder auf Berggipfeln, also das Kreuz, akzeptieren. Sind das Werte, die auch Sie meinen, wenn Sie demnächst in Wien einen Vortrag zum Thema "Brauchen wir Werte?" halten?

Schloßberger: Nein, auch wenn ich glaube, dass man von Fremden erwarten kann und sollte, dass sie Respekt gegenüber solchen Symbolen haben, aber das hat nichts mit der Anerkennung oder dem Teilen von Werten zu tun.

STANDARD: Sie stellen die Frage "Brauchen wir Werte?". Rhetorische Frage? Fangfrage? Gute Frage. Wie lautet die Kurzantwort darauf?

Schloßberger: Ja, wir brauchen Werte. Die Frage ist, ob der derzeitige Diskurs über Werte, also gerade mit Bezug auf die Flüchtlingspolitik, der richtige Diskurs ist.

STANDARD: Ist es der richtige?

Schloßberger: In den meisten Fällen geht es gar nicht um konkrete Werte, sondern es geht, wenn man sich die Situation des Flüchtlings, der aus einer anderen Kultur kommt, vorstellt, darum, ihm auf dem Weg, sich einer anderen Kultur anzunähern, eine gewisse Hilfestellung zu geben. Ein völlig falscher Weg wäre, zu sagen: Hier, das sind unsere Werte, die müsst ihr teilen, falls ihr sie nicht teilt, gibt es keinen Platz für euch.

STANDARD: In Österreich gibt es "Wertekurse" für anerkannte Asylwerber, mindestens acht Stunden. Acht Stunden, und man ist quasi ein gelernter, ein guter Österreicher? Funktioniert Wertevermittlung so?

Schloßberger: Das kann ich mir nicht vorstellen, bei mir bräuchte es sicher viel länger. Im Übrigen glaube ich, dass es da vor allem um Normen geht, was etwas anderes ist. Wenn ich in eine fremde Kultur komme, dann sollte ich natürlich mit ihren Normen vertraut sein. Ein einfaches Beispiel: Wenn ich in ein Land komme, in dem Linksverkehr herrscht, dann sollte ich kognitiv sehr sehr schnell in der Lage sein, das zu erfassen, sonst habe ich ein Problem. Oder wenn ich in einer anderen Kultur bin, in der das Kopfschütteln "Ja" anstatt "Nein" bedeutet, dann sollte mir das jemand ganz schnell sagen. Da gibt es nicht viel zu verstehen, das muss ich einfach akzeptieren. Aber Werte sind etwas ganz anderes als Normen. Den Wert eines anderen zu verstehen heißt hingegen noch nicht, ihn zu teilen. Werte sind auch keine Konventionen, die es einfach zu akzeptieren gibt. Werte überzeugen, indem sie als attraktiv erfahren werden.

STANDARD: Sind Werte nicht ohnehin eine zu fluide, individuell interpretierbare Angelegenheit, weil sie uns ja nichts vorschreiben? Brauchen wir nicht viel mehr Normen und Gesetze als verbindliche Instanz für das Zusammenleben?

Schloßberger: Wir brauchen beides. Wir brauchen auf jeden Fall Normen. Denen müssen wir uns unterwerfen, sonst funktioniert eine Gesellschaft nicht. Den Normen folgen wir, weil wir einsehen, dass wir etwas brauchen, um das Zusammenleben in einer Gesellschaft zu regeln. Bei Werten ist das anders. Die Einsicht in Werte muss von mir selber kommen. Das heißt nicht, dass Werte absolut subjektiv sind, wie heute vielfach behauptet wird, dass also jeder seine eigenen Werte hat, sonst bräuchten wir uns über Werte auch gar nicht zu streiten, das wäre unsinnig.

STANDARD: Ist dann zum Beispiel so eine Debatte, ob muslimische Väter Lehrerinnen die Hand geben oder nicht, werterelevant, oder sagen Sie, das ist ein Nebenschauplatz?

Schloßberger: Wenn es in einer anderen Kultur nicht üblich ist, sich die Hand zu geben, dann sollte man zunächst vorsichtig sein. Da kann man sicher kein generelles Urteil fällen. Wenn zum Beispiel das Motiv für den verweigerten Handschlag letztlich die Nichtanerkennung des weiblichen Geschlechts ist, dann steckt hinter dieser Weigerung ein echter Wertekonflikt, über den wir diskutieren müssen. Wenn wechselseitige Anerkennung nicht wie bei uns durch das Händeschütteln, sondern auf eine andere Weise geleistet wird, dann haben wir ein Übersetzungsproblem und keinen Wertekonflikt.

STANDARD: Wie können solche Wertekonflikte gelöst werden?

Schloßberger: Wertekonflikte können nicht rationalistisch argumentativ gelöst werden, sondern indem man dem anderen die Attraktivität der eigenen Werte deutlich macht und ihn gewissermaßen einlädt, ihnen zu folgen. Ein Wert, zu dem man jemanden zwingt, ein erzwungener Wert, ist für den anderen niemals ein Wert. Das ist auch das Problematische am Diskurs über Anerkennung. Wenn wir den anderen zur Anerkennung irgendwelcher Werte verpflichten, sind wir auf dem Holzweg, denn die Verpflichtung zu einer Anerkennung führt niemals zu echter Überzeugung von dem Wert, um den es geht.

STANDARD: Welches "Wir" ist in der Frage "Brauchen wir Werte?" gemeint bzw. impliziert das im Grunde genommen schon die Grenzen für die Gültigkeit dieser Werte?

Schloßberger: Das ist zunächst ein sehr inklusives Wir. Meine Antwort wäre: Wir Menschen brauchen und haben immer Werte, und jeder, der das leugnet, ist kokett. Er will oder kann seine Werte nicht artikulieren und gegenüber anderen stark machen.

STANDARD: Wo ziehen Sie denn die Linie zwischen universellen und partikularen Werten? Weil ja nicht alle alle Werte teilen (wollen).

Schloßberger: Das ist eine ganz schwierige Frage. Aber es ist klar, dass es Werte gibt, von denen wir guten Gewissens sagen können, dass sie universal sind, wie etwa die Idee der Menschenwürde.

STANDARD: Sind Sie da sicher? Dieser Anspruch der westlichen Welt auf Universalismus ihrer Werte wird ja von einigen Ländern, beispielsweise China, bzw. Regimen oder auch religiösen Fundamentalisten als Form des Imperialismus empfunden. Da ist dann etwa die Rede von "asiatischen Werten", die die dem widersprechen würden.

Schloßberger: Das ist natürlich auch eine politische Geschichte, aber auch im westlichen Diskurs über Werte gibt es sehr unterschiedliche Positionen. Es gibt eine sehr individualistische Auslegung der Idee der Menschenwürde, und es gibt eher an der Gemeinschaft orientierte Positionen. Was die Menschenwürde ausmacht, wird auch im Westen immer wieder kontrovers diskutiert. Es gibt einen Streit darüber, was Vorrang hat, die kulturelle oder die individuelle Selbstverwirklichung. Also ob es zum Beispiel ein Recht gibt auf die Pflege der eigenen Kultur, auf die Muttersprache, das Sprechen im Dialekt usw.

STANDARD: Was gehört in die Kategorie "Partikularität" von Werten?

Schloßberger: Das wären zum Beispiel Fragen des menschlichen Zusammenlebens in Partnerschaften. Es ist nicht sinnvoll, hier nur von rein individuellen Überzeugungen zu sprechen. Viele Menschen sagen doch, indem sie sich für eine bestimmte Lebensform entscheiden, das sei die richtige Lebensform. Zugleich gibt es das Gefühl, dass man es zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen anders gehalten hat und hält und man keinen tieferen Grund angeben kann, andere zu bevormunden. Hier gibt es eine Spannung, und daher würde ich von partikularen Werten sprechen.

STANDARD: Wie kann oder soll man Werte vermitteln? Und wer soll es machen? Staat? Eltern? Schule?

Schloßberger: Auf jeden Fall die Eltern. Jeder Mensch wächst in ein bestimmtes Gefüge von Werten hinein, lang bevor er irgendwann so weit ist zu sagen, ja, das sind meine Werte, oder nein, ich lehne diese Werte ab. Die Schule hat auch einen wichtigen Anteil, insofern ist der Staat natürlich in die Weitergabe von Werten involviert. Der Staat sollte sich allerdings zurückhalten, wenn es darum geht, partikulare Werte in gesetzliche Normen zu überführen und damit die Pluralität von Lebensformen und Werten zu beschneiden.
(Lisa Nimmervoll, 28.11.2016)