Die Möglichkeit, andere Menschen zu bewerten, ist in der DNA sozialer Netzwerke fix einprogrammiert.

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Sie ist wohl die am schlechtesten bewertete App aller Zeiten: Peeple hält im App-Store bei gerade einmal einem von fünf möglichen Sternen. "Absoluter Müll", kommentiert ein Nutzer. "Einfach furchtbar – schade, dass man Entwickler nicht bewerten kann", bemerkt ein anderer. Dabei würde die verhasste App genau das erlauben. Mit Peeple können User andere Menschen mit einem Wert zwischen null und zehn Punkten versehen. Die Erfinder der Anwendung behaupten, mit der App Menschen für "Freundlichkeit" belohnen und zu "positiven Interaktionen" inspirieren zu wollen. Das beurteilte eine überwältigende Mehrheit der Nutzer jedoch als naiv bis zynisch. Ein Erfolg ist die App Monate nach ihrem Start jedenfalls nicht.

Naiv?

Doch ist es nicht eigentlich naiv, so allergisch auf diese App zu reagieren? Tatsächlich hält Peeple dem Verhalten der User in sozialen Netzwerken doch nur einen Spiegel vor. Schon jetzt wird gelikt, geherzt, geteilt und gehasst, was das Zeug hält. Facebook, das mit 1,7 Milliarden Nutzern größte soziale Netzwerk, ging teils aus einer Webseite hervor, auf der Harvard-Studentinnen nach ihrer Attraktivität bewertet werden konnten. Auch Youtube, das weltgrößte Videoportal, entstammt einer ähnlichen Idee. Der Gedanke, andere Menschen zu bewerten, ist in der DNA sozialer Netzwerke fix eingeschrieben.

Noch heute stellen "Gefällt mir"-Angaben oder die Verweilzeit beim Betrachten von Profilbildern wichtige Daten dar, die von den Unternehmen zu Geld gemacht werden können. Gleichzeitig werden Nutzer dahingehend gepolt, ihren "Content" immer besser für ihre Freunde oder Follower zu optimieren. Natürlich hat das schon jetzt spürbare Konsequenzen: Wer viele Likes abstaubt, wird in den Timelines seiner Facebook-Freunde viel prominenter platziert und ist ihnen daher vielleicht präsenter. Die Datingplattform Tinder – berühmt wie berüchtigt dafür, dass Nutzer potenzielle Dates nach links oder rechts wischen können, je nach Attraktivität – bewertet ihre Nutzer intern nach einem geheimen Algorithmus. Der bestimmt wiederum, wann die Nutzer welchen möglicherweise für sie attraktiven Personen angezeigt werden. Als bekannt wurde, wie Nutzer auf ihre eigene, bislang geheime Bewertung zugreifen können, wurde so manches Selbstbild angekratzt.

Kein Job ohne Sterne

Wie wir uns im Netz präsentieren – und in weiterer Folge: wie unsere Präsentation bewertet wird –, spielt in einigen Unternehmen schon jetzt eine wichtige Rolle bei der Auswahl von Bewerbern. Referenzen und Kontakte auf Plattformen wie Xing oder Linked-in werden natürlich herangezogen, um eine Entscheidung zu fällen. Versicherungen und Banken greifen auf intransparente Bewertungen zurück, um Kredite zu vergeben. Der Score eines Menschen berechnet sich angeblich auch aus seinem Vornamen. Klingt dieser ausländisch, sinkt der Kreditwert. Unternehmenstools erlauben es Vorgesetzten, die Arbeit ihrer Angestellten nach unterschiedlichsten Kennzahlen festzulegen. Wenn man den Bogen von einer neoliberalen Wirtschaftsideologie, die den Menschen quantifizierbar macht, zu sozialen Netzwerken spannen möchte, könnte man das an dieser Stelle tun.

Gefühl der Unzulänglichkeit

Fakt ist, dass soziale Netzwerke in vielen Nutzern ein Gefühl der Unzulänglichkeit auslösen. Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Angstzuständen sowie Depressionen und intensiver Social-Media-Nutzung. Wir werden ständig mit den schönsten Fotos, den tollsten Erlebnissen und feinsten Speisen unserer Freunde konfrontiert – und viele haben das Gefühl, da nicht mithalten zu können. Wir bewerten uns selbst im Spiegel der anderen, der Ausschnitt aus deren Leben ist jedoch sorgsam ausgewählt und optimiert. Natürlich sind bereits Subkulturen entstanden, die fordern, das "wahre Leben" in Social Media abzubilden. Doch die überwältigende Mehrheit der Nutzer will sich online keine Blöße geben.

Markt der Eitelkeiten

Am eigenen Leib erfahren die Konsequenzen der Bewertungskultur momentan vor allem Dienstleister jeglicher Art. Services wie Yelp, Foursquare, Tripadvisor, aber auch Google oder Herold bieten Nutzern die Möglichkeit, ihre Erlebnisse in Restaurants oder bei Ärzten als Kennzahl wiederzugeben. Das kann schnell existenzbedrohend werden: Hat ein Lokal drei, vier Bewertungen, bei denen nur wenige Sterne vergeben wurden, hat es nur schlechte Chancen, aus dem Kreislauf der üblen Bewertungen auszubrechen. Denn wer Apps wie Tripadvisor benutzt und also bereit wäre, Bewertungen zu schreiben, vermeidet wohl gering eingeschätzte Etablissements. Werden Fahrer beim Fahrtenvermittler Uber von ihren Kunden zu oft schlecht bewertet, dürfen sie nicht mehr arbeiten.

Vor allem Ärzte wehren sich dagegen, online auf eine Sternezahl reduziert zu werden. Der subjektive Eindruck weniger Nutzer kann schnell die Reputation der Mediziner zerstören. Da heißt es bei Ärzten dann, sie hätten eine "komische Art", manchen dauert die Wartezeit zu lang, andere fühlen sich nur oberflächlich untersucht.

Ärzte gegen Bewertungsportale

Mehrere Mediziner zogen gegen derartige Bewertungsportale sogar vor Gericht. Prinzipiell sei die Aufnahme von Ärzten in ein öffentliches Bewertungsportal aber auch gegen deren Willen möglich, urteilte der deutsche Bundesgerichtshof. Mit Belegen müssten derartige Webseiten aber prüfen, ob die Bewertung "nachvollziehbar" sei. Subjektiv bleibt sie aber jedenfalls – und sie strahlt wiederum aus: Denn natürlich prahlt man auf Facebook damit, in jenem Lokal diniert zu haben, das zu den zehn am besten bewerteten des Urlaubsorts gehört.

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Natürlich könnte man jetzt einwenden, dass es sich dabei keinesfalls um neue Phänomene handle. Klar: Schon vor den sozialen Medien, ja lang vor dem Internet gab es Ärzte, die als Koryphäen galten, oder Lehrer, vor denen man sich im ganzen Ort fürchtete. Doch die sozialen Medien machen es uns um einiges leichter, anderer Reputationen zu zerstören. Bildete sich ein "schlechter Ruf" früher über lange Zeit durch Getuschel und Geflüster, genügen jetzt einige Klicks, um jemanden für alle sichtbar herunterzumachen. Auch wenn der Gesetzgeber mit datenschutzrechtlichen Maßnahmen wie dem Recht auf Vergessen im Netz Menschen vor den Langzeitwirkungen der schlechten Nachrede im Internet beschützen will – was einmal im Internet steht, kann kaum wieder daraus entfernt werden.

Lästerfreiheit

Einen dystopischen Ausblick darauf, was eine Massenverbreitung von Apps wie Peeple auslösen könnte, bot unlängst eine neue Folge der Scifi-Serie "Black Mirror". Sie zeigte eine Zukunft, in der auf unseren Smartphones stets eine Bewertung unserer Gegenüber erscheint. Nach jeder Interaktion wird die andere Person bewertet. Topscorer erhalten dann Vergünstigungen in Restaurants oder zahlen weniger, wenn sie in ein Hotel einchecken. Doch die Systematik erfolgt auch in umgekehrter Reihenfolge: Wer von seinen Mitmenschen nur wenige Sterne erhalten hat, darf keine Flugreisen antreten und gilt als Paria.

Die Sympathieträgerin der Folge ist natürlich eine Person, die verheerende Bewertungen erhalten hat und jetzt als Fernfahrerin arbeiten muss. Ob sie es nicht leid sei, ständig den sozialen Normen zu folgen und sich so zu verhalten, wie andere es wohl von ihr erwarten, fragt die Truckerin die Hauptdarstellerin der Folge, die verzweifelt darum kämpft, von 3,9 auf über vier Sterne zu springen – und deshalb ihr ganzes Leben einem "Like-Regime" unterworfen hat.

"Danke für den Kommentar, das gefällt mir – Like mich am Arsch"

Es ist durchaus logisch, dass die jüngste Generation, die mit Facebook und Konsorten aufgewachsen ist, einen Hang zu "flüchtiger" Kommunikation wie bei Snapchat entwickelt hat, die sich nach einer Weile selbst zerstört. Nehmen wir uns daran ein Beispiel: Likes, schlechte Bewertungen und Herzerln sind oft Momentaufnahmen, die man nicht allzu ernst nehmen muss. Oder, wie die Hip-Hopper von Deichkind in einem Song vorschlugen: "Danke für den Kommentar, das gefällt mir – Like mich am Arsch." (Fabian Schmid, 23.1.2017)