Bild nicht mehr verfügbar.

Noch in der Nacht auf Montag hatte Renzi seinen Rücktritt angekündigt.

Foto: REUTERS/Alessandro Bianchi

Matteo Renzi hat eine herbe Niederlage eingesteckt. Das von ihm veranlasste Referendum über die Verfassungsreform wurde von den Italienern mehrheitlich abgelehnt. Nach dem Rücktritt des Premiers steht Italien – nicht zum ersten Mal – vor einer Regierungskrise. Gianluca Wallisch, stellvertretender Ressortleiter Außenpolitik/International, gibt einen Überblick über die Geschehnisse und stellt sich den Fragen aus dem STANDARD-Forum.

Wallisch: Prinzipiell handelt es sich bei der Verfassungsänderung um ein altes Thema, es wird bereits seit 30 Jahren diskutiert – erfolg- und folgenlos, wie man seit Sonntagnacht weiß. Das Paket musste ins Referendum, obwohl es im parlamentarischen Procedere von Senat und Abgeordnetenkammer bereits abgenickt war. Dadurch dürfte sich Renzi bis zum Sommer auch – fälschlicherweise – derart in Sicherheit gewogen haben, dass er glaubte, den Ausgang des Referendums mit seinem persönlichen politischen Schicksal verknüpfen zu können. Kernpunkt war, ein – im für Renzi negativen Sinn – "einzigartiges Parlamentssystem" abzuschaffen, das zwei gleichberechtigte Parlamentskammern hat.

Der "bicameralismo perfetto" (Zweikammersystem) erwies sich in 70-jähriger italienischer Parlamentspraxis keineswegs als perfekt, sondern sehr oft als Problem. Vor allem seit den 1990er-Jahren, als das traditionelle Parteiengefüge "Christdemokraten – Sozialisten – Kommunisten" wegen der Aufdeckung zahlreicher Korruptionsfälle zerbrach. Seitdem ist Italiens Parteienlandschaft stark fragmentiert – so sehr fragmentiert, dass einige von ihnen bei Wahlen kaum auf zweistellige Ergebnisse kommen. Viele Parteien – viel Uneinigkeit, könnte man sagen. Das macht das Regieren sehr schwierig, oft unmöglich.

Senat sollte schrumpfen

Renzi wollte daher den Senat weitgehend entmachten, um die Gesetzgebungsverfahren beschleunigen zu können. Der Senat sollte von 315 auf 100 Mitglieder (wie in den USA) schrumpfen und ehrenamtlich arbeiten. Das Volk sollte die Senatoren nicht mehr direkt wählen können (mit einer Zweitstimme), sondern nur noch die Abgeordnetenkammer. Dort sollte der bestehende Mehrheitsbonus für die stärkste Partei weiter ausgebaut werden – ein Dorn im Auge vieler, die befürchteten, dass das Land auf autoritäre Zeiten zusteuern könnte, wenn es einmal einen "falschen" Sieger geben sollte. Die 100 übrig gebliebenen Senatoren sollten nicht mehr gleichberechtigt mit den Kollegen in der Abgeordnetenkammer über alle Gesetze abstimmen können, sondern nur noch über Verfassungs- und EU-Fragen. Das Misstrauen sollten der Regierung künftig nur noch die Abgeordneten, nicht aber die Senatoren aussprechen können. Die traditionell stark ausgebildeten Rechte der Regionen des föderalen Italien sollten beschnitten werden – vor allem bei Tourismus, Kulturgütern und Zivilschutz. Renzi tönte, mit seiner Reform dem Staat 500 Millionen Euro ersparen zu können. Seine Kritiker lächelten nur und sprachen von maximal 100 bis 160 Millionen Euro. Insgesamt ging es um 47 Kapitel beziehungsweise Themen.

Blick in den Senat in Rom, den Renzi weitgehend entmachten wollte.
Foto: AFP/FILIPPO MONTEFORTE

Haben die Italiener dieses Referendum tatsächlich als "Abrechnung" mit Renzi gesehen, oder gingen die Inhalte der geplanten Reformen den Wählern schlicht zu weit?

Wallisch: Renzi hat – lange vor dem Brexit-Referendum – den Erfolg "seines" Verfassungsreferendums mit seinem persönlichen politischen Schicksal verknüpft. Eine Riesendummheit, die wohl nur einer verzerrten Wahrnehmung seiner eigenen Person, Fähigkeiten und Erfolge zuzuschreiben ist. Seine Ankündigung hat sich spätestens nach dem britischen Raus-aus-der-EU-Votum im Juni gerächt (wo auch Premier David Cameron scheiterte). Seitdem ist Renzi öfter zurückgerudert, dann wieder nach vorn geprescht. Letztlich war die Ankündigung seines Rücktritts völlig unvermeidlich. Renzi bezeichnet sich gern als "rottamatore" – also als "Verschrotter" der politischen Fehlbildungen in Italien. Daher hat er zumindest konsequent und schnell reagiert. Aber alles nur auf die Person Renzis zu reduzieren wäre zu simpel. Wie auch anderswo gibt es in Italien keine monokausalen Ereignisketten, schon gar nicht in der Politik.

Ein großer Unruhefaktor – und der war ganz besonders in Renzis eigenem Lager zu spüren – war das Vorhaben, das Wahlgesetz zu reformieren. Dieses ist als "Italicum" bekannt. Es wurde schon Anfang Mai 2016 im Parlament mit 334 Ja- zu 61-Nein-Stimmen verabschiedet. Der Widerstand gegen "Italicum" blieb aber bestehen – bis heute. Hauptsächlicher Grund der Sorge: Es wird zu leicht gemacht, einen autoritären Regierungsstil (etwa nach ungarischem "Vorbild") einzuführen. Durch den geplanten "Mehrheitsbonus" könnte die bei den Wahlen erfolgreichste Partei 55 Prozent der Mandate bekommen, auch wenn sie an der Urne zum Beispiel nur 20 Prozent erhält. Das ist im stark zersplitterten Italien eine realistische Größe für einen Wahlsieger. Außerdem sollte die kleinere Parlamentskammer – der momentan noch sehr einflussreiche, aber kaum kontrollierbare Senat – de facto entmachtet und zur Regionalvertretung gemacht werden (wie etwa der Bundesrat in Österreich und Deutschland). Heute sitzen mehr als 300 Senatoren in der Kammer, einige davon sogar auf Lebenszeit – ein Faktor, der Renzi ein Dorn im Auge war, weil ein Regierungschef (er oder ein anderer) solcherart den Senat nicht gut kontrollieren kann.

Wallisch: Theoretisch ginge das, aber Renzi wird Ende der Woche zurücktreten. Punkt. Aus. Basta. Aber – und das hat er bereits am Dienstag klargemacht – er will zurückkommen. Und zwar stärker als bisher. Seine Rechnung: Rund 40 Prozent haben ihn ohnehin gewählt, auf diese Wählerinnen und Wähler glaubt er auch in Zukunft setzen zu können. Sollte er bei Neuwahlen aber auch nur 30 Prozent erhalten, wäre er wohl der große Sieger. Renzi spekuliert mit der Angst vor Beppe Grillos Protestbewegung ("5 Sterne"), die zwar in Umfragen vorn liegt und richtigerweise viele Misstände anprangert, aber kaum fachlich (geschweige denn politisch) kompetentes Personal aufweisen kann.

Hätte Renzi lieber nicht die Rücktrittskarte ausspielen sollen, oder wäre seine Amtszeit mit dem Nein der Wähler ohnehin in einer Sackgasse gelandet?

Wallisch: Renzi hat aus seiner Sicht sogar sehr gut daran getan, sofort– also unmittelbar nach Bekanntwerden des Votums – zu demissionieren. So zeigt er, dass er zu seinen Ankündigungen steht (auch wenn er gefühlte 100-mal herumlaviert ist) und die Initiative übernimmt. Viel wird für Renzis Zukunftschancen davon abhängen, wer interimistisch die Regierungsgeschäfte übernimmt – und wann gewählt wird.

Kommt ein Technokrat (wie so oft in der italienischen Parlamentsgeschichte)? Dann hat Renzi gute Chancen, eine große Nummer in der Partei zu bleiben und diese in die nächsten Wahlen zu führen. Das wäre mit Senatspräsident Pietro Grasso wohl der Fall.

Oder kommt ein "big shot" als Interimspremier? Dann schmälern sich die Chancen auf ein Comeback, denn dieser Politpromi wird selbst weitermachen wollen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn EU-Außenkommissarin Federica Mogherini (eine Renzi-Vertraute) in Brüssel die Koffer packen und nach Rom zurückkehren würde. Diese Variante wäre allerdings eine Riesenüberraschung. Aber dennoch irgendwie logisch: Mogherini hat als EU-Kommissarin bewiesen, große Politik zu verstehen und zu beherrschen (zum Beispiel Iran-Deal). Ihr Mandat läuft ohnehin 2018 aus. Wenn sie also nach Rom gerufen würde, könnte das eine sehr interessante Option für sie sein.

Der Haken (oder gar der Clou?): Renzi ist mit 41 zu jung, um schon jetzt in die politische Pension zu gehen. Wenn er in Italien nichts mehr werden kann, dann halt in der EU. Dort ist er ohnehin schon länger als Nachfolger von EU-Ratspräsident Donald Tusk (Polen) im Gespräch. Da es aber zwei Italiener (Renzi, Mogherini) an der EU-Spitze nicht geben kann, wäre eine Übersiedlung Mogherinis für ein solches Vorhaben geradezu ideal. Bitte lesen Sie dazu, was unser Brüssel-Korrespondent Thomas Mayer dazu geschrieben hat.

Renzi wird rasch wählen wollen

Aber diese Variante ist wohl nur eine charmante Denkhypothese. Da Renzi ja auf Neuwahlen schon im Februar drängt und sein Innenminister Angelino Alfano Dienstagmittag einen solchen Termin als "wahrscheinlich" bezeichnet, wird Renzi wohl in Rom bleiben wollen.

Langer Rede kurzer Sinn: Renzi wird rasch wählen wollen, solange er noch im Spiel ist und solange er noch mit dem Argument punkten kann, dass 40 Prozent ohnehin hinter ihm stehen. Dieser rasche Termin impliziert allerdings fast zwangsläufig, dass noch einmal mit dem alten Wahlgesetz gewählt werden wird – etwas, was Renzi absolut verhindern wollte. Aber vielleicht will er auch das in einen Vorteil drehen: Indem er sich der Mehrheit fügt; indem er sagt: Okay, ihr wollt das alte Wahlgesetz, okay, ich zeige euch, dass ich auch so gewinnen kann. Ihr werdet schon sehen. Wer weiß ...

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: REUTERS/Tony Gentile

Wieso hat Südtirol mit mehr als 60 Prozent für die Reform gestimmt?

Wallisch: Im Vergleich zu vielen anderen italienischen Ministerpräsidenten (es gab nach dem Zweiten Weltkrieg derer 27) gibt/gab sich Renzi vergleichsweise autonomiefreundlich. In seinem Reformpaket wollte er die Autonomieregelung Südtirols mit der Zentralregierung in Rom sogar verfassungsmäßig verankern. Bisher undenkbar. 60 Prozent der Südtiroler sahen daher die Chance, ihren politischen Status abzusichern – egal wie heute oder in Zukunft die Regierung in Rom aussehen wird. Mich wundert fast, dass die Zustimmung für Renzis Referendum in Südtirol daher nicht noch größer ausgefallen ist. Wahrscheinlich haben dann für Viele doch andere negative Aspekte den Ausschlag gegeben.

In jedem Fall aber ist dieses Regionalergebnis eine eindeutige Stärkung der Südtiroler Volkspartei (SVP). Diese hatte Renzis Plan offen und eindeutig unterstützt. Die SVP war in den vergangenen Jahren – noch unter der Regentschaft von Langzeithauptmann Luis Durnwalder – in diverse Korruptionsskandale verwickelt und hatte stark an Popularität eingebüßt. Der nunmehrige Landeshauptmann Arno Kompatscher kann jetzt zufrieden sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Einzelergebnis tatsächlich ein Comeback für die SVP bedeuten kann. Die Wähler ändern ihre Meinung heutzutage sehr schnell und je nach Anlass – wie man auch in Österreich immer wieder sehen kann.

Wie sieht die Zukunft Italiens nun aus?

Wallisch: Alles in allem sah ich Italien unter Renzi auf einem recht guten Weg. Auf jeden Fall auf einem besseren Weg als unter Silvio Berlusconi. Allerdings ist Renzis Erfolgsbilanz viel bescheidener, als er es selbst wahrhaben möchte. Von seiner Ankündigung "eine Reform pro Monat" ist nichts übrig geblieben. Aber immerhin: Italien ist heute wesentlich offener Richtung EU – und das ist gut so, schließlich ist Italien trotz aller Probleme eine der größten Volkswirtschaften in Europa.

Sorglosigkeit beim Thema Staatsverschuldung

Ich wundere mich allerdings sehr über die Sorglosigkeit, mit der bisher jede Regierung in Rom mit dem Thema Staatsverschuldung umgeht. 2.200 Milliarden Euro sind unglaublich viel und übersteigen meine Vorstellungskraft – und wohl nicht nur meine. Hier gab es im letzten Jahrzehnt keinerlei Anzeichen einer Verlangsamung des Trends – geschweige denn einer Trendumkehr. In Italien verweist man da gern auf "Spitzenreiter" Japan mit einer BIP-Schuldenquote von 248 Prozent. Dagegen sei Italien mit aktuell rund 133 Prozent geradezu ein Musterschüler.

Nun gut, im Vergleich zu Griechenland (Quote 178 Prozent) ist Italien eine vergleichsweise starke und gesunde Volkswirtschaft – aber sie lebt nach wie vor eindeutig über ihre Verhältnisse. Die Warnungen, dass Italien ein "zweites Griechenland" werden könnte, sind ernst zu nehmen. Allerdings wird es nicht so schnell dazu kommen. Das beweisen schließlich auch die Finanzmärkte, die auf Renzis Niederlage sehr cool reagierten.

Hohe Jugendarbeitslosigkeit

Besorgniserregend ist die Jugendarbeitslosigkeit, die seit Jahren bei rund 40 Prozent verharrt – fast ohne große Hoffnung auf Besserung. Hier riskiert ein sehr großer Teil der Bevölkerung, alt zu werden, ohne jemals einen regulären Job gehabt zu haben. Das muss einfach immense Auswirkungen auf Kranken- und Pensionsversicherungen haben. Darüber wird kaum geredet, im Gegenteil: Sogar Renzi machte zuletzt Versprechen für die Bevölkerung, die niemals finanzierbar sein werden (Steuern, Pensionen).

Roms Bürgermeisterin Virginia Raggi
Foto: AFP/Andreas SOLARO

Stichwort Machtwechsel: Sollten Politiker vom Schlage eines Matteo Salvini (ausländerfeindliche, rechte Lega Nord) oder eines "Grillino" an die Macht kommen, wäre ich unmittelbar sehr, sehr besorgt. Man braucht nur nach Rom zu blicken – zugegebenermaßen eine seit Jahrzehnten de facto unregierbare Stadt: Dort ist Bürgermeisterin Virginia Raggi von der Grillo-Partei "5 Sterne" dermaßen überfordert, dass man dafür eigentlich nach einem neuen Wort suchen müsste. Das sehen aber viele, vielleicht sogar die allermeisten Italiener auch so. Insofern könnte Rom nicht – so wie von Grillo erhofft – das Sprungbrett für die Übernahme der Macht in ganz Italien sein, sondern eher der Sargnagel.

Wie auch immer: Wir werden es nach den nächsten Wahlen sehen, irgendwann im Zeitfenster zwischen Frühjahr 2017 und Frühjahr 2018. (gian, jnk, luh, 6.12.2016)