Wie Migräne entsteht, ist noch unklar. Etwa zehn Prozent der Erwachsenen leiden an immer wiederkehrenden Kopfschmerzattacken.

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Viele Patienten zählen die Tage. Die Tage im Monat, an denen in ihrem Kopf ein regelrechtes Gewitter herrscht. An manchen Tagen zieht es von den Schläfen herauf, um sich wie ein Nervengewitter im Kopf in alle Richtungen zu entladen. Migränegeplagte leiden nicht nur unter einem pulsierenden Schmerz, sondern auch unter Übelkeit und Erbrechen, vielfach auch an einer Überempfindlichkeit gegenüber Licht. Während die Attacken wüten, können sie oft nur noch im Bett liegen, bis sich die Gewitter wieder verziehen.

Etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind betroffen: Wie Migräneanfälle genau entstehen, ist noch nicht im Detail geklärt. Insofern verwundert es nicht, dass viele der klassischen Medikamente nicht speziell auf die Erkrankung abzielen. Ob mit Betablockern, Epilepsie-Mitteln, oder Antidepressiva: Rund ein Drittel der Patienten bekommt so seine Anfälle nicht in den Griff oder es treten unerwünschte Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Müdigkeit auf. Doch mittlerweile keimt Hoffnung auf.

Anfälle vorbeugen

Es begann alles Anfang der 1990er-Jahre. Damals überprüfte Lars Edvinsson von der Lund University in Schweden im Blutabfluss des Gehirns, der Vena jugularis, welche Substanzen sich während eines Anfalls im Kopf neu bilden. Er stieß nur auf eine einzige Substanz: das Calcitonin Gene-Related Peptid (CGRP). Zunächst glaubten Edvinsson und andere Forscher, CGRP würde die Migräne anstoßen, indem es die Blutgefäße des Gehirns ausweitet. Doch allmählich trat zutage, dass das Peptid auch ein Botenstoff ist, der an der Schmerzweiterleitung beteiligt ist.

Mittlerweile weiß man, dass bei Migränepatienten eine einzelne Spritze mit CGRP schwere Attacken auslösen kann. Erste Medikamente, die man im Zuge dieser Entdeckungen entwickelte und die auf das Peptid abzielten, brachten den Migränepatienten Erleichterung. Weil die Wirkstoffe bei manchen Patienten aber auch die Leber in Mitleidenschaft zogen, verschwanden sie wieder schnell von der Bildfläche.

Nun wagen Forscher weltweit einen erneuten Versuch. Sie wollen den Übeltäter mit Antikörpern außer Gefecht setzen. Das Ziel lautet, mit der Therapie dem Gewitter im Gehirn prophylaktisch zu begegnen, also Anfällen vorzubeugen, bevor sie sich zusammenbrauen. Die Antikörper sollen dabei an die Botenstoffe binden und sie neutralisieren. Da es sich bei den Antikörpern um große Moleküle handelt, können sie nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden, die das Gehirn vor potenziellen Giftstoffen aus dem Blutkreislauf abschirmt. Sie wirken daher in erster Linie außerhalb des Gehirns, und zwar an Nervenfasern, die den Botenstoff freisetzen.

Erste klinische Studien

Derzeit testen gleich vier Pharmaunternehmen verschiedene Antikörper und liefern sich dabei ein regelrechtes Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten wirksamen Antikörper. 2016 haben Forscher um Paolo Martelletti von der Universität Rom im Fachblatt "Internal and Emergency Medicine" die bisherigen Ergebnisse dieses Wettrennens in einer Übersichtsarbeit zusammengetragen.

Diese ersten klinischen Studien haben bisher an noch relativ kleinen Patientengruppen von jeweils einigen hundert Personen die Verträglichkeit und Wirksamkeit der Antikörper geprüft. In zwei Studien mit einem Wirkstoff des israelischen Pharmaunternehmens Teva Pharmaceuticals etwa haben Forscher rund 300 Patienten mit episodischer und mehr als 250 Patienten mit chronischer Migräne unter die Lupe genommen. Über drei Monate hinweg injizierten sie den beiden Gruppen einmal monatlich Antikörper gegen CGRP.

Bei den Patienten mit episodischer Migräne ging die Zahl der Kopfschmerzattacken bei mehr als 50 Prozent der Probanden um die Hälfte zurück. In einer Kontrollgruppe, die nur ein Placebo bekommen hatte, erreichten dagegen nur 28 Prozent einen vergleichbar positiven Effekt. Unter den chronisch Migränegeplagten fiel das Ergebnis ähnlich aus. Ernsthafte Nebenwirkungen traten nicht auf.

Antikörper wirken nicht bei allen Patienten

"Die Spanne der Reduktion ist relativ groß", sagt Volker Limmroth, Direktor der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin in Köln. "Es gibt Patienten, bei denen verringern sich die Kopfschmerztage um 50 bis 70 Prozent." Das sei beeindruckend und für Patienten, bei denen sonst wenig helfe, ein Segen. Bei anderen Betroffenen hingegen reduzierten sich die Attacken nur um wenige Stunden pro Monat. Letzteres klinge nicht gerade viel. "Die meisten betroffenen Patienten sehen das allerdings anders", betont Limmroth. "Für die ist jede Stunde Kopfschmerz mit Übelkeit und Erbrechen zu viel."

Allerdings macht er eine Einschränkung: "Die Antikörper werden nicht bei allen Patienten wirken, sondern nur bei einer bestimmten Gruppe." Leider könne man nicht vorhersagen, wer von den Medikamenten profitiere und wer nicht. "Möglicherweise werden wir Patienten finden, bei denen GCRP in der Entstehung der Migräne eine zentrale Rolle spielt, und andere, bei denen vielleicht ein anderer Botenstoff wichtiger ist." Dennoch sei diese Medikamentengruppe ein großer Fortschritt.

Hirnhautentzündung und Antikörper

Auch die Verträglichkeit des Wirkstoffs sei insgesamt sehr gut, sagt Hans-Christoph Diener vom Universitätsklinik Essen. Er sieht allerdings ein Problem: wenn es bei einem Patienten, der mit einem Antikörper behandelt wird, zu einer Hirnhautentzündung kommt. "Normalerweise können die Antikörper die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden." Bei einer Hirnhautentzündung werde aber die Blut-Hirn-Schranke undicht, und die Antikörper könnten ins Gehirn gelangen. "Was sie dort anrichten könnten, ist bisher nicht bekannt."

Um die Wirksamkeit, aber auch die Sicherheit noch besser unter die Lupe nehmen zu können, finden gerade weltweit Phase-III-Studien an größeren Patientengruppen statt. Auf diesem Weg lassen sich auch mögliche seltenere Nebenwirkungen erfassen. Mit etwas Glück müssen Migränepatienten in Zukunft immer weniger Gewittertage zählen. (Christian Wolf, 14.12.2016)