Autorin Brigitte Kronauer arbeitet unbeirrt an einer deutschen Mentalitätsgeschichte der Gegenwart.

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Wien – In Aachen findet sich genügend Platz für akademische Fachkräfte im Vorruhestand. Anita Jannemann (42) ist der Liebe wegen in die alte Kaiserstadt heimgekehrt. Ein aus Österreich stammender Extremkletterer mit wasserblauen Augen hat ihr Herz gewonnen. Anita gibt ihre Zürcher Uni-Anstellung auf. Sie jobbt als Verkäuferin von Madonnenpüppchen und Lakritzstangen in einem Aachener Andenkenladen.

Anita fristet ein Leben in Wartestellung. Ihr sehniger Bergfex schmiegt sich durchaus nicht an ihre Seite. Er zieht es sonderbarerweise vor, den Elbrus im fernen Kaukasus zu besteigen. Prompt bricht er sich den Hals. Brigitte Kronauers neuer Romanheldin bleibt von nun an genügend Muße, der betagten Lieblingstante an den Wochenenden Höflichkeitsbesuche abzustatten. Alle Zukunftsverheißungen brechen für sie jählings in sich zusammen. Und in der Tat meint man, sich in einer typischen Kronauer-Romanwelt wiederzufinden.

Katastrophen bilden die Gravitationsstellen in einem Kosmos, der sich, wiewohl eindrucksvoll plastisch skizziert, durch einen hohen Grad an Künstlichkeit auszeichnet. In der Welt der Hamburger Prosaautorin gelten nicht so sehr die Gesetze blasser Sanftheit. In Wahrheit erhebt in dem Roman Der Scheik von Aachen niemand Geringerer als der Zufall sein abstoßendes Haupt.

Sein blindes Walten bändigt am ehesten derjenige, der von seinen Verlusten und Unzulänglichkeiten am glaubwürdigsten erzählt – um wenigstens nachträglich zu erfinden, woran sich niemand gerne erinnern will.

Der Orient als Folie

Der Orient in seiner ältesten Form bildet die Folie für dieses ebenso bestrickende wie handlungsarme Buch. Angespielt wird auf ein Wilhelm-Hauff-Märchen: auf die Ökonomie von An- und Abwesenheit, auf die Vertagung von Lebensentscheidungen und auf das Strecken von Zeit. Man muss bloß begreifen, dass ihr Verstreichen die Aufforderung an uns richtet, die Schrecken der Vergangenheit erzählerisch zu bannen. Mitunter reicht es auch, das Unbewusste gewähren zu lassen.

Was mit Blick auf die Virtuosin Kronauer betulich klingen könnte, enthält in Wahrheit die Aufforderung zu hemmungsloser Übertreibung. Die Autorin ist eine Vertreterin der Hochkomik wie nur wenige. Man begegnet einer Kleinstadtgesellschaft von trauernden Frauen und dysfunktionalen (oder gleich überhaupt abwesenden) Männern. Todesfälle ragen aus der Kindheit in die Gegenwart herein. Der Name eines vom Baum gefallenen, tödlich verunglückten Cousins darf schon deswegen niemals Erwähnung finden, weil er sich, hat man sich verhört, auf "Hofgang" oder "Walfang" reimt.

Im Wust der Manieren und bürgerlichen Gepflogenheiten sind es die unscheinbaren Gegenstände, sentimental und albern, deren Vorhandensein es uns gleichwohl ermöglicht, an eine "Geschichte der Empfindlichkeit" (Hubert Fichte) zu denken und sie auf die individuellen Leben zu beziehen. Kronauers Aachen ähnelt aber auch einer hermetischen Zauberberg-Welt. Die personale Rede ersetzt ein allzu ausuferndes Räsonieren der Autorin. Der Lorbeer unter den Figuren gebührt einem zynischen Antiquitätenhändler namens Marzahn. Der ist bis an die Zähne mit Bildungsdünkeln bewaffnet und erklärt der Kultur der Selbstbeweihräucherung den Krieg.

Menschen, die ihn beim Eintreten womöglich mit "Hallihallo" begrüßen, werden von ihm sozial geächtet. Dieser Faun ist Anitas wahrer Gegenspieler. Ein jesuitischer Naphta (siehe Zauberberg), der liberale Lippenbekenntnisse vom Tisch wischt und für den jeglicher Kulturplunder dennoch unentbehrlich bleibt. Anita nimmt aus Aachen Reißaus. Sie kuratiert mit einem neuen Gefährten Gebrauchsgegenstände für Heimatmuseen. Marzahn aber bleibt zurück, von Schlägern malträtiert – ein unversöhnlicher Feind der Gesellschaft, der ihre Annehmlichkeiten dennoch nicht entbehren kann und will. Und so verklingt Kronauers famoser Roman unentschieden, ein spätes Adagio der Mittsiebzigerin, ein makelloses Stück Gedankenmusik. (Ronald Pohl, 16.12.2016)