Michail Gorbatschow, der letzte Sowjetpräsident, verkündete am 25. Dezember 1991 im Fernsehen seinen Rücktritt.

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Das Wetter passte sich der Untergangsstimmung an: Der 21. Dezember 1991 war einer jener trüben Wintertage, an denen der Dezember in Moskau reich ist, der graue Himmel über dem Kreml wolkenverhangen, der Schnee am Straßenrand rar und schmutzig. Artjom Borowik, der an jenem Tag als Letzter Michail Gorbatschow als Sowjetpräsidenten im Kreml interviewte, erinnerte sich später an einen einsamen Staatsführer, der nur noch von wenigen treuen Helfern, dafür von einer Unzahl an Geheimdienstagenten umgeben war, die noch darüber rätselten, wem sie künftig dienen sollten.

"Der Kreml erinnert an einen geplatzten Luftballon, an dessen Band sein einst mächtiger Herr aus Gewohnheit immer noch zieht", so Borowik. Ein Indiz für den Verfall der Macht: Die Umkleiden im Kreml waren leer. "Die Garderobenfrauen, heißt es, seien schon vor einer Woche zum Mittagessen verschwunden", berichtete der Journalist.Ungeachtet dessen gab sich Gorbatschow selbst zuversichtlich, die Sowjetunion retten zu können. Er, der sechs Jahre zuvor energisch Glasnost und Perestroika angeschoben hatte, dann aber immer mehr zwischen die Fronten der Reformer und der Konservativen geriet, wurde nach dem August-Putsch vom bulligen russischen Präsidenten Boris Jelzin ins Abseits geschoben. Nun setzte er seine Hoffnung auf die Verhandlungen der Republikchefs im kasachischen Alma-Ata über einen neuen Unionsvertrag, die er lediglich als Zuschauer aus der Ferne verfolgte.

Schwierige Nachfolge

"Ich gehe davon aus, dass sie sich einigen", sagte Gorbatschow Borowik. Er wurde enttäuscht: Der Vertrag sah mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten lediglich einen losen Staatenverbund, vor, der nie Integrationskraft entwickelte. Fünf Tage nach dem Interview wurde die sowjetische Flagge vom Kreml geholt und durch die russische Trikolore ersetzt.Russland trat allein die Nachfolge der Sowjetunion an – ein schweres Erbe, das nicht nur den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und ein gewaltiges Arsenal an Atomwaffen bedeutete, sondern auch die Erfüllung internationaler Verträge und die Übernahme der enormen Schuldenlast. Der jahrelang niedrige Ölpreis verschärfte die Probleme des Staatshaushalts zusätzlich. Die Umgestaltung entpuppte sich als schwierig, der Sprung von der Plan- zur Marktwirtschaft endete im Raubtierkapitalismus.

Einige wenige Russen wurden steinreich, der Großteil hingegen verarmte.Der Zerfall hatte noch weitere Konsequenzen für die Bevölkerung: Er bedeutete die Trennung von Familien, den Verlust der Heimat für Millionen. Ein Sibirier, der zu Sowjetzeiten als Arzt ins Baltikum geschickt wurde, oder ein Ukrainer, der als Bergbauingenieur nach Usbekistan abkommandiert wurde – sie galten plötzlich als Fremde und wurden ausgegrenzt. Vor der russischen Botschaft in Taschkent drängten sich Ende der 1990er-Jahre, Anfang des neuen Jahrtausends Menschen in kilometerlangen Schlangen, die um die russische Staatsbürgerschaft baten – und zumeist abgewiesen wurden.

Erst 2007 startete Moskau ein Rückholprogramm für ethnische Russen – 2015 siedelten so 180.000 Menschen ins Land über. Einen Festakt wird es daher zum 25. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion in Moskau nicht geben. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin bezeichnete den Zerfall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Das Bedauern über den Untergang des "roten Imperiums" teilt er mit einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung in Russland. Während im Kreml dabei natürlich vor allem der Verlust der Macht betrauert wird, sind für die Russen eben jene schmerzlichen Erinnerungen ausschlaggebend in ihrer Bewertung.

Stabilität versus Stagnation

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum bedauern 56 Prozent der Menschen den Zerfall des Landes, eine Mehrheit wünscht sich gar die Wiederherstellung der Sowjetunion. Der Wunsch nach Stabilität und Größe, der sich dahinter verbirgt, war innenpolitisch jahrelang Wladimir Putins größte Machtstütze. Doch wie für die Sowjetunion besteht auch jetzt für Russland die Gefahr, dass sich Stabilität in Stagnation verwandelt und Größe in Überdehnung. Der jüngste Ölpreisschock hat die fehlende Diversifizierung der russischen Wirtschaft einmal mehr demonstriert. Das militärische Engagement in Syrien hat nicht den Maßstab von jenem in Afghanistan, aber es wird Russlands Militär auf Jahre binden. (André Ballin aus Moskau, 20.12.2016)