Statistisch gesehen, spielen bei manchen Krebserkrankungen weder Lebensstil noch Gene die Hauptrolle, sondern schlichtweg Zufallsmutationen. Das behaupten der US-Onkologe Bert Vogelstein und der Bioinformatiker Cristian Tomasetti, die ein mathematisches Modell entwickelt haben, mit dem sich die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, berechnen lässt. Ihr Ausgangspunkt: Bösartige Tumoren entstehen durch fehlerhafte Zellteilungen. Je mehr Mutationen, desto höher ist auch das Risiko.

Die These der Forscher: Organe mit den meisten Stammzellen und hoher Teilungsrate sind am anfälligsten für Krebs. Das Ergebnis der Analyse: Für 22 von 31 untersuchten Krebsarten ließ sich ein Zusammenhang zwischen Erkrankungshäufigkeit und Zellteilungsrate der betroffenen Organe feststellen. Die Forscher errechneten, dass es im untersten Verdauungstrakt während eines Lebens durchschnittlich zu einer Billion Stammzellenteilungen kommt, im Dünndarm sind es hingegen nur etwa zehn Milliarden. Dickdarmkrebs kommt deutlich häufiger vor als das Zwölffingerdarmkarzinom. Bei Mäusen ist es genau umgekehrt, allerdings weisen die Nager auch eine höhere Stammzellenteilungsrate im Dünndarm auf.

Lungenkrebs als Rarität

Für einen Teil der Krebserkrankungen geht die Rechnung von Vogelstein und Tomasetti aber nicht auf. Lungenkrebs ist so ein Fall. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt er als Rarität. Mit dem zunehmenden Tabakkonsum änderte sich das dramatisch. Mittlerweile ist das Bronchialkarzinom die zweithäufigste Krebsart bei Männern.

Das Risiko für eine Erkrankung lässt sich durch eine direkte Dosis-Wirkung-Beziehung ableiten. Für Raucher heißt das: Je früher damit begonnen wird und je stärker beziehungsweise länger ein Mensch raucht, desto wahrscheinlicher ist es, dass er an Lungenkrebs erkrankt. "Eine Packung am Tag führt im Schnitt zu einer Mutation in der Erbinformation, nach 20 Jahren sind es über 7000. 40 Zigaretten pro Tag bedeuten ein etwa 40-fach höheres Risiko, an einem Bronchialkarzinom zu sterben", sagt Richard Greil, Vorstand der Onkologie an den Salzburger Universitätsklinik.

Giftiger Cocktail

Von den insgesamt 7000 chemischen Stoffen im Tabakrauch sind 70 nachweislich krebserregend. Darunter Aerosole. Cyanide, Benzene, Formaldehyd, Methanol oder Acetylen. "Vor allem unvollständig verbrannte Teer- und Kohlenwasserstoffe weisen ein hohes kanzerogenes Potenzial auf", so Greil.

Zusätzlich kommt es zu einer chronischen Entzündung. "Bei starken Rauchern sind die Schleimhäute in der Lunge von einem Teerbelag überzogen", ergänzt Wolfgang Hilbe, Leiter der Onkologie am Wiener Wilhelminenspital. Fakt ist: 85 Prozent der Lungenkrebserkrankungen stehen in direktem Zusammenhang mit Tabakkonsum. Nur 15 Prozent sind auf Umwelteinflüsse oder genetische Faktoren zurückzuführen.

"Die rein vererbte Form des Lungenkarzinoms ist relativ unbedeutend. Es gibt zwar die familiäre Häufung von Erkrankungen, in den meisten Fällen lassen sich diese aber damit erklären, dass Kinder von Rauchern signifikant häufiger ebenfalls zur Zigarette greifen und bereits in jungen Jahren verstärkt Passivrauch ausgesetzt waren", so Hilbe. Von den umweltbedingten Risikofaktoren ist radioaktive Strahlung durch Radon wahrscheinlich relevant. "In Umhausen im Ötztal konnte in den Kellern der Häuser eine verstärkte Radonbelastung gemessen werden. Auch Lungenkrebs tritt dort gehäuft auf", erläutert Onkologe Hilbe. Darüber hinaus können Karzinogene, die etwa über Asbest, Arsen, Kadmium, Chrom, Nickel und polyzyklische Kohlenwasserstoffe, wie sie im Asphaltteer enthalten sind, eingeatmet werden, Lungenkrebs fördern.

Frauen holen auf

Männer erkranken zwar nach wie vor häufiger, doch Frauen holen auf. In Österreich sind mittlerweile rund doppelt so viele Frauen wie vor 20 Jahren betroffen, eine Folge des zunehmenden Tabakkonsums in den vergangenen 30 bis 40 Jahren, vermuten Experten. Die Neuerkrankungsrate bei Männern wird laut Prognose der Statistik Austria zwischen 2020 und 2030 wahrscheinlich nicht weiter steigen, bei Frauen schon. In den USA sterben bereits mehr Frauen an einem Lungenkarzinom als an Brustkrebs. Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist, "dass rauchende Frauen ein deutlich höheres Lungenkrebsrisiko aufweisen als rauchende Männer, da ihre Entgiftungsenzyme weniger stark ausgeprägt sind", so Greil.

Doch nicht nur aktive Raucher sind gefährdet. In mehreren Untersuchungen wurde ermittelt, dass Passivrauchen das Lungenkrebsrisiko zwischen 30 und 40 Prozent erhöht. "Ein Abend in einem Raucherlokal ist kein Problem, das schafft die Lunge leicht. Wenn eine Kellnerin, die selbst Nichtraucherin ist, aber in einem Raucherlokal arbeitet, kann von einer unmittelbaren Gesundheitsgefährdung gesprochen werden", betont Wolfgang Hilbe. Schließlich haben Messungen gezeigt, dass manche Kanzerogene im Nebenstromrauch sogar in höherer Konzentration vorkommen als im Hauptstromrauch, den Raucher inhalieren.

Weit verbreitet ist die Meinung, dass die Zellen eines jungen Menschen noch über starke Abwehr- und Reparaturmechanismen gegen die Giftstoffe im Tabakrauch verfügen. Das Gegenteil könnte aber der Fall sein: Studien legen nahe, dass ein heranwachsender Körper sogar empfindlicher reagiert.

Je früher, umso schlimmer

Es konnte festgestellt werden, dass Exraucher, die bereits vor dem 15. Lebensjahr regelmäßig Tabak konsumierten, im Erbgut des Lungengewebes durchschnittlich mehr Schäden aufweisen als ehemalige Raucher, die erst nach dem 20. Lebensjahr von Nikotin, einem starken Nervengift, abhängig wurden. Nikotin selbst wirkt übrigens nicht kanzerogen, macht aber schnell süchtig. Für den Onkologen Greil wäre es deshalb ein vorrangiges Ziel, die heranwachsende Generation besser zu schützen. "Was den Anteil der rauchenden Jugendlichen betrifft, ist die Situation in Österreich katastrophal. Hier liegen wir europaweit an der Spitze," so Greil, man müsse Prävention deutlich früher ansetzen als in der "kritischen Phase der Pubertät, wir brauchen adäquate Role-Models und langfristige Konzepte, die bereits im Kindergartenalter ansetzen und zumindest bis zum 17. Lebensjahr dauern. Denn wer bis zum 18. Lebensjahr nicht geraucht hat, tut dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch danach nicht."

Fest steht: Klassische Aufklärungs- und Informationskampagnen wirken nicht. "Das bringt genau so viel, wie einem Jugendlichen zu sagen, dass er heute schon Geld für seine Pension zur Seite legen sollte", ergänzt Hilbe.

Risiko noch spät senken

In den meisten Fällen wird die Diagnose Lungenkrebs rund um das 60. Lebensjahr gestellt. Wer denkt, dass er bis zur Lebensmitte weiterrauchen kann, irrt. Bis ein ehemaliger Raucher ein ähnlich geringes Erkrankungsrisiko wie ein Nichtraucher aufweist, dauert es zwischen 15 und 20 Jahre. Die gute Nachricht: "Selbst wer erst mit 50 Jahren aufhört, kann sein Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, signifikant verringern", betont Greil. Nach fünf Jahren Tabakabstinenz ist die Erkrankungswahrscheinlichkeit immerhin um 60 Prozent gesunken.

Ein weiteres Problem: Lungenkrebs wird meistens sehr spät erkannt. Das hat fatale Folgen. Eine Erhebung aus England und Wales hat gezeigt, dass ein Jahr nach der Diagnose nur mehr rund ein Drittel der Patienten lebt. Nach zehn Jahren sinkt die Überlebensrate auf fünf Prozent.

Den gesundheitsschädigenden Effekt des Zigarettenqualms konnte auch der kanadische Epidemiologe Prabhat Jha vom Center for Global Health Research in Toronto ganz eindeutig belegen. Er analysierte die Daten von rund 113.000 Frauen und 88.000 Männern über einen Zeitraum von insgesamt 25 Jahren. Das zentrale Ergebnis: Ein lebenslanger Nichtraucher hat im Vergleich zu einem Raucher eine doppelt so hohe Chance, 80 Jahre alt zu werden. Im Mittel starben Raucherinnen elf Jahre und Raucher zwölf Jahre früher als Menschen, die nie dem blauen Dunst gefrönt haben. Den Unterschied an Lebenszeit dürfte aber nicht nur das erhöhte Lungenkrebsrisiko ausmachen: Denn Rauchen fördert auch COPD, Schlaganfall, koronare Herzerkrankungen und 16 weitere Krebsarten. (Günther Brandstetter, 1.1.2017)