Köln, Jänner 2016: Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht protestieren Frauen gegen sexuelle Gewalt.

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Ein Jahr nach Köln: "Besonders schlimm ist das Bashing von männlichen Asylwerbern und gleichzeitig das Instrumentalisieren von Frauenrechten für rassistische Ressentiments", sagt Birgit Wolf.

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"Sexualisierte Gewalt darf keine Frage der Herkunft des Täters sein", sagt die Sozialwissenschafterin Birgit Wolf.

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STANDARD: Ein Jahr nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht wird Gewalt gegen Frauen zunehmend als Phänomen einer spezifischen Kultur dargestellt. Wurde das Thema instrumentalisiert?

Wolf: Ja, das Thema wurde instrumentalisiert, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Interessant ist, wenn man sich ansieht, wie Gewalt gegen Frauen ein Jahr davor, 2015, diskutiert wurde. Im Zuge der Debatten über die Sexualstrafrechtsreform wurde das Thema bagatellisiert. Es gab Shitstorms auf die Frauenministerin, sexuelle Gewalt wurde heruntergespielt, die Betroffenen lächerlich gemacht. Ein Professor der Uni Innsbruck behauptete sogar, dass es sich hier um ein nicht so gravierend sozialstörendes Verhalten handle, um es ins Strafrecht aufzunehmen. Die 2015 attackierte Fahrradfahrerin in Graz war da schon wieder vergessen.

Damals wie heute geht es um sexuelle Belästigung und Gewalt gegen weiße, europäische Frauen. Ein Jahr später, als in Köln auch fremde Männer als Täter ausgemacht wurden, war man sofort bereit, diese sexualisierte Gewalt zu verurteilen und entsprechende Maßnahmen zu setzen. Bei der aufnehmenden Gesellschaft wird das Problem oft ausgelassen – und dass, obwohl 80 Prozent der Täter bei sexualisierter Gewalt aus dem sozialen Nahfeld der Frauen kommen, also keine Fremden sind. Diese Verschiebung des Problems der sexualisierten Gewalt auf "andere" sieht man auch daran, dass die sexuellen Übergriffe beim Oktoberfest, die seit vielen Jahren bekannt sind, lange nicht so präsent sind – weder in Debatten noch in den Medien.

STANDARD: Das Narrativ "schwarzer Mann vergewaltigt weiße Frau" ist nicht neu, hat sich aber nach Köln in den Artikeln vieler Zeitungen festgesetzt. Was bewirkt es?

Wolf: Mittels Kulturalisierung der Gewalt und "Othering" – also die anderen sind das, nicht wir – wird das Thema von uns weggeschoben. Die vorherrschenden Bilder und Diskurse funktionieren als soziale Platzanweiser. Es gibt Studien dazu, die zeigen, dass sich Darstellungen von Vergewaltigung und angedeuteter Vergewaltigung quer durch die Hollywood-Produktion des 20. Jahrhunderts ziehen. Betroffen davon sind Frauen, die sich sozialen Normen widersetzen – aber auch Männer. Die Vergewaltigung durch den so bezeichneten "schwarzen" Mann ist ein altes Bild, das, wie man an den aktuellen Debatten sieht, bis heute wirkt. Hier werden soziale Plätze zugewiesen, die eben nicht in unserer Gesellschaft sein sollen. Köln war ein willkommenes Argument, um Ressentiments weiter zu schüren – gegen den muslimischen, arabischen Mann.

Besonders schlimm ist dieses Bashing von männlichen Asylwerbern und gleichzeitig das Instrumentalisieren von Frauenrechten für rassistische Ressentiments. Sexualisierte Gewalt darf keine Frage der Herkunft des Täters sein. 2013 endeten von 920 Anzeigen wegen Vergewaltigung nur 104 mit einer Verurteilung – das war noch vor dem Zuwachs an Schutzsuchenden in Österreich. Sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich "anderen" sind – oder die Opfer die vermeintlich weißen, österreichischen Frauen sind. Das wurde sehr gut in der Kampagne #ausnahmslos formuliert.

STANDARD: Dass es in Sachen Gewalt an Frauen an Bewusstsein fehlt, zeigt die jüngste Eurobarometer-Umfrage. Demnach halten nur 49 Prozent im EU-Durchschnitt sexuelle Gewalt in der Beziehung für falsch und gesetzeswidrig. In Österreich sind es 50 Prozent. Wie erklären Sie sich das?

Wolf: Es ist eindeutig, dass es hier zu Verkürzungen der Information gekommen ist, denn sieht man sich die Fragen der Eurobarometer-Umfrage genau an, so meinen 49 Prozent der EU-BürgerInnen und 50 Prozent der ÖsterreicherInnen, dass den/die PartnerIn zum Sex zu zwingen falsch und bereits gesetzeswidrig sei, weitere 37 Prozent EU-weit und weitere 34 Prozent in Österreich meinen, dass es falsch sei und gesetzeswidrig sein sollte. D. h. insgesamt wenden sich EU-weit 86 Prozent und österreichweit 84 Prozent gegen diesen spezifischen sexualisierten Übergriff. Bedenklich finde ich hauptsächlich, dass Österreich im EU-Vergleich generell unterdurchschnittlich abschneidet, was das Bewusstsein in Sachen Beziehungsgewalt oder sexualisierte Gewalt betrifft.

STANDARD: Was hat sich aus Ihrer Sicht in der politischen und gesellschaftlichen Debatte über Gewalt gegen Frauen und Kinder in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Wolf: Es hat sich sehr viel geändert. In den 1980er-Jahren war Gewalt an Frauen noch ein Tabuthema. Aktivistinnen der Frauenbewegung haben erkämpft, dass sich hier etwas bewegt. Im Film "Die Anfänge der Frauenhäuser" wird dokumentiert, welche Debatten geführt wurden, als das erste Frauenhaus aufgesperrt wurde, das von Johanna Dohnal eröffnet wurde. Die Frauenhausmitarbeiterinnen der ersten Stunde hatten große Schwierigkeiten, Unterstützung von den Behörden und der Polizei zu bekommen. Der Diskurs über häuslicher geschlechtsbasierter Gewalt hat sich in den letzten zehn bis 20 Jahren grundlegend verändert – auch wenn es in den Medien immer noch die Tendenz gibt, aus einem Mord an einer Frau eine "Familientragödie" oder ein "Beziehungsdrama" zu machen.

Was aber fehlt, ist das Hintergrundwissen, damit auf einer breiten Basis das Phänomen Gewalt gegen Frauen verstanden werden kann. Wie wirkt sich Gewalt auf betroffene Personen aus? Es ist wichtig, darüber Bescheid zu wissen, um Frauen nicht zu verurteilen, wenn sie sich nicht von ihrem Partner trennen. Es gehören viele Schritte, klare Grenzen und viel Mut dazu, um aus einer Gewaltbeziehung auszusteigen. Hier fehlt es auch an Berichterstattung über das Thema. Gerade in den Phasen der Trennung sind Frauen, auch ihre Kinder, oft extrem gefährdet, das wissen gewaltbetroffene Frauen. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass manche Frauen den Weg aus der Gewalt nicht überleben und von ihren Partner oder Expartner ermordet werden.

STANDARD: Gewaltprävention geht uns alle an. Passiert in Österreich genug – und wenn: Passiert das Richtige?

Wolf: Was die Sekundärprävention angeht, also alle Maßnahmen, die getroffen werden, wenn es bereits zu Gewalt gekommen ist, ist Österreich sehr gut unterwegs. Was die Primärprävention betrifft, der Bereich, bevor es zu Gewalt kommt, besteht in Österreich eine große Lücke. Was bedeutet Gewalt an Frauen im Alltag? Darüber mangelt es an Wissen. Auch was zu tun ist, wenn im sozialen Nahfeld eine Frau betroffen ist. Es fehlt an Handlungsoptionen, die weit darüber hinausgehen, bei der Frauenhelpline 0800/222 555 anzurufen, wobei das sehr wichtig ist. Viele wissen nicht, wie sie Frauen unterstützen und wie sie Gefährdungen richtig einschätzen können. Wir müssen von der Haltung des Wegschauens und Lieber-nicht-Einmischens wegkommen. Die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist nicht so wie zum Beispiel in Spanien in das Gewaltschutzgesetz integriert, daher fehlt es an Budget, entsprechender Kampagnenplanung und Evaluierung. Das heißt, strategische und nachhaltige Kommunikationsplanung zum Thema gibt es keine. (Christine Tragler, 28.12.2016)