Der 1993 gestorbene kosmische Jazzer Sun Ra. Die CD-Box "Singles" vereint nun erstmals jahrzehntelang vergriffene Vinyl-Singles.

Foto: Strut Records

Wien – Das Showgeschäft vertraut zwar immer schon auf Tratsch und Klatsch und Mythen in Tüten. Immerhin verbreiten sich Neuigkeiten von Herrn Hörtman und Frau Sagtman sowie deren Schwägerin Heißtes schneller als manch andere kalte, harte Fakten des Lebens. Das Dasein auf Erden besteht ja nicht nur aus der magensäurehaltigen Resignationslyrik eines Countrysongs, sondern auch aus wirklich Wichtigem wie Befindlichkeits-Tweets des US-Präsidenten, dem Auf und Ab diverser Ehen im Hause Windsor – oder der aktuellen Haarfarbe und dem Geisteszustand Kanye Wests.

Fakt ist in diesen postfaktischen Zeiten jedenfalls eines: Irgendwann einmal in den späten 1960er- oder frühen 1970er-Jahren betrieb Sun Ra in seiner Wahlheimat Philadelphia, der "Stadt der brüderlichen Liebe", die er selbst aufgrund deren industriellen Niedergangs und ihres offenen Rassismus als "Hauptquartier des Teufels" bezeichnete, tatsächlich ein Büro, in dem er Arbeitsstellen im Weltraum vermittelte.

Demokratischer Weltraum

Der US-amerikanische Jazzmusiker, Komponist, Poet und Kosmopolit (mit der Betonung auf Kosmos) wurde 1914 als Herman "Sonny" Blount in Birmingham geboren. Das liegt im historisch gesehen nicht gerade für seine Willkommenskultur oder interkulturellen Nachbarschaftsdialog bekannten Alabama.

Anfangs war seine Karriere durchaus noch konventionell angelegt. Nach dem Bigband-Swing der 1940er-Jahre begann er sich aber nicht nur musikalisch mit freieren Formen zu beschäftigen. Angesichts der Repressalien seines weißgeprägten und -dominierten Umfelds begann er sich, wie viele andere afroamerikanische Musiker und Künstler auch, mit "kosmischen" Philosophien und der Verheißung vom Weltraum als offener, allen Menschen frei zugänglicher demokratischer, multikultureller und multiethnischer Idee zu beschäftigen. Das war noch lange vor Star Trek. To go where no man has gone before.

Himmelhochjauchzende Freitönerei

Das Ganze wird verständlicher, wenn man sich den Niedergang von Sun Ras Nachbarschaft in Germantown, Philadelphia, ab den Rassenunruhen von 1964 anschaut. Es gibt davon eine Filmdokumentation, Headquarters of the Devil: Sun Ra in Philadelphia.

Kurz gesagt, hier wurde bald auch mit den Mitteln der himmelhochjauchzenden Freitönerei, also des Free Jazz der fröhlichen, frühen, scheinbar unschuldigen und naiven Form eine einzigartige, im besten Sinne auch als Ballaballa durchgehende neue Kunst geschaffen. Teilweise mit vier Handvoll Musikern, die in Kostümen aus dem Science-Fiction- und ägyptischen Sandalenfilmfundus steckten, entstanden fortan Alben wie We Travel The Spaceways, Sun Ra Visits Planet Earth oder Super-Sonic Jazz sowie einer der größten, nie in die Hitparaden gekommenen Erfolge der Jazzgeschichte überhaupt, Space Is The Place. 1972 der Soundtrack zu einem Blaxploitationfilm.

Raumfahrt im Wohnzimmer

Wir ahnen es schon, aus dem Pianisten und Keyboarder Herman Blunt schlüpfte der Sternenfahrer Sun Ra. Der behauptete fortan, dereinst mit einer Arche vom Saturn auf die Erde gekommen zu sein, woraus sich der Bandname des heute noch höchst aktiven Sun Ra Arkestra ableitet – obwohl dessen Bandleader schon im Mai 1993 auf seinen Heimatplaneten zurückgekehrt ist.

Am erfolgreichsten verlief Sun Ras Karriere naturgemäß während der Hippiezeit. Zudem hörte man seiner damaligen Musik durchaus an, dass auch im Weltraum narrische Schwammerln wachsen.

Die nun vorliegende Dreifach-CD-Box Singles (Strut/Hoanzl) vereint aus den verschiedenen Schaffensperioden – bis hin zu seiner späten Liebe für Walt Disney – seltene, ursprünglich nur in Kleinstauflage auf seinem eigenen Label Saturn erschienene Vinylsingles. Darunter findet man Synthesizer-Wahnsinn wie Disco 2021, späte Kinderklavier-Lyrikexerzitien wie I Am The Instrument oder den tanzbaren Smash-Hit Nuclear War. Raumfahrt daheim im Wohnzimmer, sie ist möglich. Großes Tennis! (Christian Schachinger, 21.12.2016)