An Universitäten würden Studierende "mit Fachwissen versorgt, ohne zu sehen wofür", sagt der Soziologe Paul Kellermann. Wichtig sei Kritikfähigkeit.

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Kellermann plädiert für mehr projektorientiertes Arbeiten.

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STANDARD: In Ihrer gerade erschienenen Textsammlung "Universität nach Bologna?"schreiben Forscher über die Hochschulentwicklung in Europa. Welche sind die gemeinsamen Herausforderungen?

Kellermann: Universitätsbildung wieder so zu ermöglichen, dass die persönlichen Potenziale der Studierenden sich entwickeln können. Doch das Studium wird immer mehr aus betriebswirtschaftlicher Sicht wahrgenommen: Was lässt sich an Kompetenzen individuell profitabel verwenden, wie lassen sich Studienangebote in weltweiter Konkurrenz wirtschaftlich verwerten? Es geht nicht mehr um die Erkenntnis von "Wahrheit" oder um die Entwicklung der Wissenschaften – zum Hauptziel wurde "employability", also "Beschäftigungsfähigkeit".

STANDARD: Wann hat das begonnen?

Kellermann: Mit dem Bologna-Prozess ab 1999. Ein Jahr zuvor war die Sorbonne-Erklärung erschienen, in der die Bildungsminister von Italien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien eine Vision für die Hochschulentwicklung formulierten. Darin wurde unter anderem "employability" als ein Recht der Hochschulabsolventinnen und -absolventen aller europäischen Universitäten verstanden, sich überall in Europa um einen Arbeitsplatz bewerben zu können. 1999 wurde diese Sorbonne-Erklärung von Managern verschiedener Lobbyvereinigungen uminterpretiert: Die Idee, freie Mobilität der Graduierten in Europa zu fördern, wurde pervertiert in "employability" als Beschäftigungsfähigkeit im Sinne von "wissenschaftlichem Humankapital" für die Arbeitsmärkte.

STANDARD: Wodurch das "Idealbild der klassischen europäischen Universität" in Vergessenheit geriet, wie Sie schreiben. Was machte diese Universität aus?

Kellermann: Eines ihrer wesentlichsten Merkmale ist die "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden", der "universitas magistrorum et scholarium", woher sich ja der Name "Universität" herleitet. Es sollte so sein, dass sich Studierende und Lehrende gemeinsam um Wissen, um Erkenntnis bemühen – durch Studium einerseits sowie durch Forschung und Lehre andererseits. Dieser Vorstellung haftet in Zeiten der Massenuniversität etwas Utopisches an, etwas, das nirgendwo mehr verwirklichbar erscheint. Lernen und Lehren sind nicht mehr unmittelbar an Forschung gebunden, um sowohl Professionalität als auch Kritikfähigkeit zu entwickeln. Stattdessen überwiegt enge berufliche Ausbildung bei weitem.

STANDARD: Was ist schlecht daran, wenn ein Studium auf den Beruf vorbereitet?

Kellermann: Nichts. Aber aktuell werden Studierende durch umfangreiche, detailliert vorgegebene Studienpläne mit Fachwissen versorgt, ohne zu sehen, wofür – und ohne die Möglichkeit, das Studium selbstverantwortlich zu organisieren; ja, überhaupt erst zu lernen, was Selbstorganisation und Selbstverantwortung eigentlich bedeuten. Vernunft, Produktivität, Eigeninitiative und Organisationsfähigkeit bleiben unterentwickelt.

STANDARD: Stimmt Sie eine Bewegung wie "unibrennt" positiv?

Kellermann: Damals, 2009, hatten sich einige kritische Studierende gefunden. Sie forderten "Bildung statt Ausbildung". Was man aber sehen muss: Bildung beginnt nicht erst an der Hochschule. Wenn Jungen schon vorher gelehrt wird, es komme auf eine gute Erwerbstätigkeit an, dann ist es nicht verwunderlich, wenn viele die vorgeschriebenen häufigen Prüfungen möglichst schnell und ohne großen Aufwand hinter sich bringen wollen, damit sie einen Titel bekommen.

STANDARD: Angekommen in der Arbeitswelt, haben sie das, was sie an der Uni gelernt haben, längst wieder vergessen, wie Studien zeigen. Woran liegt das?

Kellermann: Schuld daran ist das "Bulimie-Lernen", also schnell Prüfungsstoff hineinziehen, um ihn ebenso schnell wieder loszuwerden. Was sich demgegenüber bewährt hatte, aber leider meist verlorenging, waren "Projektstudien": Ein Problem wird identifiziert – Studierende und Lehrende lösen es in der Gruppe. Sie müssen dafür rausgehen, sich allumfassend mit der Lösung beschäftigen, und das gemeinsam.

STANDARD: Laut einer aktuellen Befragung des Münchner Ifo-Instituts findet jedes dritte Unternehmen, dass sich die Ausbildung von Absolventen in den letzten Jahren verschlechtert habe.

Kellermann: Das mag stimmen, aber Unternehmen sind auch kaum mehr in der Lage, das, was Universitäten im optimalen Fall den Studierenden mitgegeben haben, sinnvoll zu nutzen. Sie erkennen zu wenig die Qualitäten, die ein vernünftiges Studium trotz aller Mängel vermittelt: neue Erkenntnisse und neue Methoden.

STANDARD: Was können Arbeitgeber besser machen?

Kellermann: Sie müssten mit den Berufsanfängern und -anfängerinnen offene Gespräche führen, um herauszufinden, was diese zu vollem Einsatz motiviert und über welche Kompetenzen diese verfügen. Oft können sie gar nicht einbringen, wofür sie sich während des Studiums begeistert haben. Im Vertrag von Lissabon wurde als Ziel formuliert, bis zum Jahr 2010 auf der Grundlage von Wissen die wettbewerbsfähigste und entwicklungsstärkste Volkswirtschaft der Welt zu werden. Dass das mit so stark reglementierten, fremdbestimmten Studien, wie sie mit dem Bologna-Prozess eingeführt wurden, nicht zu erreichen war, sollte leicht eingesehen werden können. (Lisa Breit, 11.1.2017)