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Menschen, die in Europa leben wollen, müsste vorher klargemacht werden, was das bedeute, sagt Michael Schmidt-Salomon. Etwa dass sich die Religionen hier dem Gesetz unterordnen müssen. Wer das nicht wolle, "wird sein Exil außerhalb Europas suchen".

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STANDARD: Ihr aktuelles Buch heißt "Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen" (Piper). Wer sind denn derzeit die gefährlichsten Feinde der offenen Gesellschaft?

Michael Schmidt-Salomon: Die offene Gesellschaft – sie orientiert sich an den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität – wird heute vor allem durch Islamisten und Rechtspopulisten bedroht. So unterschiedlich ihre Ziele auch sind, haben doch beide Bewegungen eine große Gemeinsamkeit: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen und vormoderne Dogmen an die Stelle individueller Freiheitsrechte setzen. Dagegen müssen wir uns mit aller Entschlossenheit zur Wehr setzen.

STANDARD: Wie soll eine moderne, säkulare, demokratische Gesellschaft damit umgehen, dass sie nicht zuletzt durch den starken muslimischen Flüchtlingszuzug immer öfter bestimmte religiöse Forderungen "integrieren" soll – oft unter dem Credo Religionsfreiheit?

Schmidt-Salomon: Zunächst muss man in diesem Zusammenhang feststellen, dass Religionsfreiheit selbstverständlich kein Freibrief zur Verletzung individueller Grundrechte ist. Der weltanschaulich neutrale Staat muss hier unmissverständlich klarmachen, dass die für alle geltenden Normen auch für Religionsgemeinschaften bindend sind. Unter gar keinen Umständen darf er den Eindruck erwecken, dass die Religionen in irgendeiner Weise über dem Gesetz stünden. Auf diesem Gebiet sind in den letzten Jahren leider schwerwiegende Fehler gemacht worden.

STANDARD: Es ist dann häufig die Rede von "verletzten religiösen Gefühlen" von Gläubigen, denen man besonderen Respekt entgegenbringen müsse. Muss man?

Schmidt-Salomon: Das sollte man keineswegs, denn größerer Respekt vor "verletzbaren religiösen Gefühlen" würde die Grundlagen einer rationalen Streitkultur in gefährlicher Weise untergraben. Respekt ist in unserer Gesellschaft an einer völlig anderen Stelle gefordert: Selbstverständlich sollten wir jedem Menschen als Menschen mit Respekt begegnen. Doch das bedeutet keineswegs, dass wir auch seine Überzeugungen und Handlungen respektieren müssten. Schließlich hat vieles, was Menschen denken, glauben und tun, aus einer halbwegs aufgeklärten Sicht keinerlei Respekt verdient – genau das muss in einer offenen Streitkultur auch klar und ohne Furcht vor verletzbaren Gefühlen artikuliert werden können.

STANDARD: Weniger beleidigt, denn vielmehr bedroht fühlen sich auch rechts außen angesiedelte Verteidiger des "christlichen Abendlandes". Wieder eine religiöse Begründung für einen politischen Abwehrkampf. Was sagt der Atheist dazu?

Schmidt-Salomon: Tatsächlich gab es in den letzten Jahren in vielen Ländern einen bemerkenswerten Zusammenschluss von Nationalisten und christlichen Rechten. Diese "Internationale der Nationalisten" erstreckt sich mittlerweile von Moskau bis nach Washington – und sie bedroht die offene Gesellschaft in ihren Grundfesten, auch wenn sie nach außen hin das Gegenteil bekundet. Immerhin: Wer ideologisch nicht völlig verblendet ist, sollte wissen, dass die Werte der Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität keineswegs von autoritären Christen und Nationalisten erkämpft wurden, sondern in einem langwierigen Emanzipationskampf gegen diese Gruppierungen erstritten werden mussten. Wer also meint, die offene Gesellschaft in Europa vor der Gefahr der Islamisierung zu schützen, indem er ausgerechnet einer neuen Christianisierung das Wort redet, der treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus.

STANDARD: Sie schreiben von den "Grenzen der Toleranz". Wo sind die? Was geht, und was geht nicht?

Schmidt-Salomon: Viele übersehen, dass es nicht nur eine, sondern zwei Grenzen der Toleranz gibt. Die erste Grenze ist wohlbekannt: Sie verläuft zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was nicht mehr toleriert werden darf. Die zweite Grenze hingegen beachtet kaum jemand, obwohl sie nicht weniger bedeutsam ist: Sie markiert den Unterschied zwischen dem, was toleriert werden muss, und dem, was akzeptiert werden kann. Wir haben es also mit drei unterschiedlichen Bereichen zu tun: dem Akzeptablen, dem Nur-Tolerablen und dem Nicht-mehr-Tolerablen. Diese unterschiedlichen Bereiche müssen auch unterschiedlich behandelt werden. Als grobe Marschrichtung kann dabei gelten: Was in einer offenen Gesellschaft zu akzeptieren ist – etwa das Ideal der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger -, muss gestärkt, was nur zu tolerieren ist – zum Beispiel schwulenfeindliche Ressentiments -, geschwächt, und was nicht mehr zu tolerieren ist – etwa Gewaltaufrufe gegen Schwule -, strikt unterbunden werden.

STANDARD: Muss eine offene Gesellschaft vollverschleierte Frauen in der Öffentlichkeit tolerieren oder kann bzw. muss sie sagen: nein, widerspricht unserem Frauenbild?

Schmidt-Salomon: Gerade weil die Vollverschleierung dem fundamentalen Wert der Gleichheit von Mann und Frau widerspricht, ist dies überhaupt eine Frage der Toleranz. Wären wir mit dem dahinterstehenden Frauenbild einverstanden, müssten wir die Verschleierung gar nicht erdulden, also tolerieren, sondern könnten sie akzeptieren. Tolerieren können wir nur das, was unseren eigenen Überzeugungen widerspricht. Selbstverständlich können wir das bloß Tolerierte auch bekämpfen, indem wir es in aller Schärfe kritisieren oder gar lächerlich machen. Mit Verboten sollten wir aber vorsichtig sein, denn sie sind das schärfste Schwert des Rechtsstaats. Ein weltanschaulich neutraler Staat darf muslimisch begründete Vermummungsformen nicht anders behandeln als andere Vermummungsformen. So kann man aus Sicherheitsgründen eine Bank nicht mit einer Clownsmaske oder mit einem Motorradhelm betreten. Das muss selbstverständlich auch für die Burka gelten. Wir sollten das reaktionäre Frauenbild hinter der Verschleierung auf eine zivilgesellschaftliche Weise, also in einer offenen Streitkultur bekämpfen, nicht durch Strafgesetze, die notwendigerweise die Spielräume der Freiheit verkleinern und somit genau das beschädigen, was es in einer offenen Gesellschaft zu verteidigen gilt.

STANDARD: Was, wenn die Toleranten mit ihrer Toleranz den Intoleranten – und radikale Islamisten sind das – das Feld bereiten und so letztlich der Toleranz und der Freiheit selbst das Grab schaufeln?

Schmidt-Salomon: Selbstverständlich dürfen wir den Feinden der offenen Gesellschaft nicht die Freiheit geben, die Grundlagen aller Freiheit zu untergraben. Hier gilt: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht! Das heißt allerdings nicht notwendigerweise, dass wir neue Verbotsgesetze bräuchten. Es gibt sehr viel effektivere Wege, dem Fundamentalismus entgegenzuwirken, etwa durch die Verbesserung unserer Bildungssysteme. Wer zum Beispiel die große Geschichte des Lebens, die die Evolutionsbiologie uns vermittelt, von der Pike auf gelernt und in ihrer Bedeutung verstanden hat, der wird den engen, hinterwäldlerischen Vorstellungen von Fundamentalisten und Nationalisten kaum noch etwas abgewinnen können.

STANDARD: Sie beschreiben das Konzept einer "Abschreckung durch Freiheit" – was meint das?

Schmidt-Salomon: Es passt nicht zu den Prinzipien einer offenen Gesellschaft, sich mit Stacheldrahtzäunen, Tränengas, unwürdigen Unterbringungen etc. abzuschotten. Allerdings könnten wir potenziellen Neuankömmlingen sehr wohl klarmachen, dass Europa dem Prinzip der offenen Gesellschaft folgt, dass sich die Religionen hier dem Gesetz unterordnen müssen, dass Männer und Frauen, hetero- und homosexuelle Menschen gleiche Rechte besitzen, dass Kinder nicht verletzt werden dürfen und dass die Verehrung des Propheten Mohammed bzw. des christlichen Messias an sich kein höheres gesellschaftliches Ansehen genießt als etwa die Verehrung von Borussia Dortmund, Monty Python oder Dolly Buster. Wer partout nicht will, dass seine Kinder in einer so freien Gesellschaft aufwachsen, wird sein Exil außerhalb Europas suchen. Wer aber für sich und seine Angehörigen einen solchen Ort der Freiheit sucht, den sollten die Europäer mit offenen Armen empfangen.

STANDARD: Welche Politik braucht die "Abschreckung durch Freiheit"?

Schmidt-Salomon: Die Umsetzung des Konzepts "Abschreckung durch Freiheit" verlangt nicht nur eine Stärkung des oft vergessenen Prinzips der Säkularität, sondern vor allem auch des Prinzips der Individualität. Denn die Feinde der offenen Gesellschaft eint, dass sie in der Regel Kollektivisten sind. Eine besonders wichtige Form des Kollektivismus ist der sogenannte Familismus, der die Familie – nicht das Individuum – als Basiseinheit der Gesellschaft begreift. Diesem Familismus ist es geschuldet, dass die "elterliche Sorge" meist sehr viel höher gewichtet wird als die Rechte der Kinder. Dieser Ideologie müssen die Verteidiger der offenen Gesellschaft deutlich entgegentreten. Die Botschaft an die Kollektivisten müsste absolut klar sein, sodass jeder weiß, mit welchen Unannehmlichkeiten er oder sie in einer offenen Gesellschaft zu rechnen hat.

STANDARD: Was bedeuten denn diese "Freiheitsandrohungen", wie Sie es nennen, etwa für Elternrechte?

Schmidt-Salomon: Selbstverständlich haben Eltern das Recht, ihre religiösen und politischen Überzeugungen in der Erziehung ihrer Kinder zum Ausdruck zu bringen. Das heißt aber nicht, dass ein weltanschaulich neutraler Staat derartige Perspektivverengungen aktiv unterstützen dürfte. So darf er es nicht zulassen, dass Mädchen vom Schwimmunterricht abgemeldet werden oder dass der Evolutions- oder Sexualkundeunterricht boykottiert wird. Schon gar nicht darf der Staat es zulassen, dass Eltern die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder aus religiösen Gründen verletzen. Kinder haben eigene Rechte, die der Staat notfalls gegen die Interessen der Eltern durchsetzen muss. Konsequenterweise müsste Zwangsbeschneidung längst schon als Unrecht gelten – nicht nur bei Mädchen, sondern auch bei Jungen. (Lisa Nimmervoll, 24.12.2016)