STANDARD: Durch die Debatte über die Mindestsicherung ist wieder in den Fokus gerückt, wie wenig viele Menschen verdienen. Hat die Gewerkschaft versagt, wenn man in manchen Branchen weniger als 1.300 Euro brutto verdient?

Foglar: Im Gegenteil, wir haben dem Mindestlohn immer einen hohen Stellenwert beigemessen. Wir haben aber das Prinzip der branchenweisen kollektivvertraglichen Verhandlungen, dadurch ergeben sich unterschiedliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Das war bisher immer ein Vorteil. Von Zeit zu Zeit brauchen wir aber eine konzertierte Aktion, bei der wir jene Lohngruppen, die etwas hinterherhinken, verstärkt nachziehen. 2007 haben wir eine Generalvereinbarung mit der Wirtschaftskammer für 1.000 Euro Mindestlohn geschlossen. Ich denke, es ist jetzt wieder Zeit für einen solchen Schritt, um 1.700 Euro für alle zu erreichen.

Noch verdienen 400.000 Menschen weniger als 1.700 Euro brutto im Monat. Innerhalb von zwei bis drei Jahren soll jeder über dieser Grenze liegen, fordert ÖGB-Präsident Erich Foglar.
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STANDARD: Was wäre der Unterschied zu einem Generalkollektivvertrag für alle Branchen?

Foglar: Ein Generalkollektivvertrag wirkt sofort. Eine Generalvereinbarung heißt: Wir ersuchen alle Branchen, dieses Problem prioritär zu behandeln und das Ziel in einer vereinbarten Zeit von zwei oder drei Jahren zu erreichen.

STANDARD: Und Sie glauben wirklich, die Wirtschaftskammer wäre dazu bereit?

Foglar: Bis auf ein, zwei ganz wenige Bereiche wurden Verhandlungen noch nie abgelehnt. Wir werden unsere Forderungen gut begründen. Es gibt noch rund 400.000 Menschen, die weniger als 1.700 Euro im Monat verdienen, und davon noch 300.000, die unter 1.500 Euro brutto liegen.

STANDARD: Wäre die Generalvereinbarung auch eine Möglichkeit, um ein Paket mit der von der Wirtschaft schon lange gewünschten Arbeitszeitflexibilisierung zu schnüren?

Foglar: Wir sind sehr flexibel, was das Paket betrifft, man muss aber auch sehen: Wir haben schon sehr flexible Arbeitszeiten. Die Gewerkschaft sieht umgekehrt den Bedarf nach einer Arbeitszeitverkürzung. Es gibt viele Menschen, die eine hohe Belastung durch Überstunden haben. Die Arbeitszeitverkürzung wird daher immer ein Teil einer Vereinbarung sein müssen. Das ist ein Geben und Nehmen. Wobei es verschiedene Arten von Arbeitszeitverkürzung gibt. Das eine war die leichtere Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche, es kann aber auch eine andere Art sein.

STANDARD: Zurück zur Mindestsicherung: Was hat sich der Sozialdemokrat Erich Foglar gedacht, als die SPÖ ein Ja zu einer Deckelung bei 1.500 Euro für Mehrkindfamilien signalisiert hat? Muss man den Sozialstaat in Teilbereichen beschneiden?

Foglar: Zunächst: Die Vereinheitlichung der Mindestsicherung war einer der größten sozialpolitischen Fortschritte. Diesen Fortschritt hat man zu Grabe getragen, er ist dem Föderalismus zum Opfer gefallen. Dann muss man sagen: Niemand in der SPÖ ist vorgeprescht, sondern Oberösterreich hat mit einem Landtagsbeschluss Fakten geschaffen. Und auch Niederösterreich hat gesagt: Entweder alle übernehmen unser Modell, oder wir beschließen es allein. Das zeigt: Es war kein Verhandlungswille da. Das war ein Diktat. Das Flüchtlingsthema war zudem nur ein vorgeschobenes. Jetzt werden wir sehen, dass die Hauptbetroffenen der Kürzung die eigenen Leute sind.

Die Ärztekammer hat das zu verantworten, wir können die Argumente sachlich überhaupt nicht nachvollziehen.
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STANDARD: Trotzdem wäre auch die SPÖ zu einer Deckelung bei 1.500 Euro bereit gewesen.

Foglar: Wenn ich mit Sachleistungen ergänze, kann ich durchaus bei der Geldleistung reduzieren. Die Frage ist aber ohnehin hinfällig, weil Ober- und Niederösterreich zu keiner sachlichen Lösung bereit waren.

STANDARD: Einschnitte werden auch bei der Familienbeihilfe diskutiert. SPÖ und ÖVP sind sich da einig, dass ausländische Arbeitskräfte, deren Kinder in der Heimat leben, weniger bekommen sollten. Ihre Meinung?

Foglar: Für mich stellt sich die Frage, ob die Suppe nicht teurer ist als das Fleisch. Was ich meine: Wenn diese Kinder dann nach Österreich kommen, erspare ich mir dann noch etwas? Das Problem ist überhaupt, dass die Frage wieder ausschließlich aus budgetären Gründen diskutiert wird. Zuerst sollten wir klären, ob das rechtlich überhaupt möglich ist und den gewünschten Effekt bringt. Ich habe eher den Eindruck, dass es sich nur um eine politisch motivierte Geschichte handelt, wo am Ende nichts Gescheites herauskommt. Das sollte man nicht auf dem Rücken der Kinder machen.

STANDARD: Die Ärzte haben zuletzt wegen der geplanten Primärversorgungszentren gestreikt. Was sagt der oberste Arbeitnehmervertreter dazu? Verstehen Sie das?

Foglar: Die Ärztekammer hat das zu verantworten, wir können die Argumente aber sachlich überhaupt nicht nachvollziehen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass der ÖGB jemals gestreikt hätte, weil uns ein Punkt in den Finanzausgleichsverhandlungen nicht gefallen hat. Als ÖGB legen wir großen Wert darauf, dass das Gesundheitssystem finanzierbar bleibt und die Leistungen nicht reduziert werden. Es wird ja auch mehr Geld in den kommenden Jahren ausgegeben. Dass man aber den Kostenpfad im Auge behält, ist eine legitime Diskussion. Wenn man mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitssystem redet, bekommt man zudem ein anderes Bild. Da sind die Ärzte schon ziemlich isoliert.

STANDARD: Ich möchte mit Ihnen in Ihrer Funktion als SPÖ-Präsidiumsmitglied noch über Rot-Blau reden. Im Frühjahr haben Sie gesagt, die SPÖ muss möglichst rasch die Frage klären, wie sie es mit der FPÖ hält. Was ist Ihre Meinung? Sind die Freiheitlichen ein möglicher Koalitionspartner nach der nächsten Wahl?

Foglar: Die SPÖ ist dabei, diese Frage zu klären, indem festgelegt wird, welche Kriterien es geben soll, um eine mögliche Koalition ins Auge zu fassen. Das ist okay. Man muss sich nach jeder Wahl fragen: Mit welcher Partei kann ich das, wofür ich stehe, am besten umsetzen?

Jetzt werden wir sehen, dass die Hauptbetroffenen der Kürzung die eigenen Leute sind.
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STANDARD: Schon klar, aber die FPÖ kennt man ja längst. Sie werden eine Meinung haben, ob eine Koalition realistisch ist.

Foglar: Wenn ich die FPÖ jetzt hernehme, gibt es wenige inhaltliche Überschneidungen. Das fängt bei der Vermögenssteuer an und setzt sich bei der EU und vielem mehr fort. Was nach einer Wahl ist, kann aber derzeit niemand beantworten. Und was bei allfälligen Koalitionsverhandlungen herauskommt, kann auch niemand beantworten. Daher bin ich der Meinung, dass man sich nicht vorzeitig festlegen sollte.

STANDARD: Sie unterstützen also die Linie von Christian Kern, die FPÖ nicht grundsätzlich als Partner auszuschließen und nach der Wahl unaufgeregt zu entscheiden?

Foglar: Wir sollten das völlig unaufgeregt und emotionslos betrachten. Es klärt sich dann ohnehin relativ schnell, ob es eine Möglichkeit gibt, sozialdemokratische Politik zu machen. Das gilt aber auch für jede andere Partei.

STANDARD: Beim Freihandelsvertrag Ceta sind Sie durchaus auf Linie mit der Opposition. Enttäuscht, dass die Regierung und Kanzler Kern letztlich zugestimmt haben?

Foglar: Unsere Position war immer: Wir sind nicht grundlegend gegen Freihandel. Ceta ist aber in hohem Maße ein Wirtschaftsabkommen, das klare Liberalisierungsbestrebungen verfolgt. Öffentliche Dienstleistungen und privilegierte Investorenschutzbestimmungen haben darin nichts verloren. Wir bleiben daher bei unserer Position: Ceta ist nicht unterschriftsreif.

STANDARD: Aber der Zug für inhaltliche Änderungen ist doch längst abgefahren.

Foglar: Dann ist er eben abgefahren. Aber dann wird sich auch an unserer Position nichts ändern.

STANDARD: Kann man also davon ausgehen, dass die Gewerkschafter im Nationalrat dagegenstimmen werden?

Foglar: Das werden wir dann sehen. Aus meiner Erfahrung entscheiden die Abgeordneten immer sehr verantwortungsvoll. Es gibt aber keine ÖGB-Abgeordneten, weil der ÖGB keine wahlwerbende Partei ist.

STANDARD: Der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl kann sich vorstellen, ein europäisches Volksbegehren zur Besteuerung von Konzernen durchzuführen. Würde der ÖGB das unterstützen?

Foglar: In der Sache ist das eine Uraltforderung des ÖGB. Wir brauchen eine Harmonisierung in der Unternehmensbesteuerung, ein rigoroses Schließen der Steueroasen in einigen EU-Ländern. Derzeit gehen einige in die völlig falsche Richtung: Großbritannien will den Brexit durch eine niedrige Körperschaftsteuer kompensieren, Ungarn will den Steuersatz auf neun Prozent senken. Sollte es also ein Volksbegehren geben, würden wir es sicher unterstützen. Ob es von der Technik her das zielführendste Instrument ist, kann ich derzeit nicht beurteilen.

STANDARD: Es ist in Mode, länger zu arbeiten. Werden Sie 2018 noch einmal als ÖGB-Präsident kandidieren? Sie werden dann 63 sein.

Foglar: Das wird dann entschieden, wenn die Zeit reif ist.

STANDARD: Wovon hängt Ihre Entscheidung ab?

Foglar: Zum einen von persönlichen Entscheidungskriterien, aber natürlich in hohem Maße auch von der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter, die mich zweimal als Kandidat vorgeschlagen hat. (Günther Oswald, 26.12.2016)