Julian Baumgartlinger hat sich bewusst für Leverkusen entschieden.

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STANDARD: Die Welt ist aus den Fugen geraten, die Leute haben Angst, der Populismus nimmt zu. Dem Fußball scheint es allerdings gut zu gehen. Wie ist dieser Anachronismus zu erklären? Nimmt in schwierigen Zeiten die Sehnsucht nach Brot und Spielen zu?

Baumgartlinger: Ja, so ist es. Im antiken Rom gab es die Gladiatorenkämpfe, sie dienten der Ablenkung. Heutzutage ist das nicht anders. Fußball ist Zerstreuung, die Leute vergessen für 90 Minuten ihre Angst, ihren Alltag, ihre wirtschaftliche Situation. In Zeiten, wo die Schwarzmaler Hochkonjunktur haben, ist die Suche nach Siegern, nach Helden eben groß. Und die gibt es auch im Sport.

STANDARD: Nach dem Terroranschlag in Berlin wurden vor den Spielen der deutschen Bundesliga in den Stadien Schweigeminuten abgehalten, es waren berührende Szenen. Mit Anpfiff herrschte dann überall business as usual. Merkwürdig, oder?

Baumgartlinger: Ja, aber alternativlos. Schweigeminuten sind, weil sie natürlich zuletzt häufiger stattfanden, leider dadurch ein wenig Mainstream geworden. Dennoch wollen wir Zeichen setzen, Stellung nehmen, Farbe bekennen. Man ist fassungslos, Terror passiert auf der ganzen Welt. Kommt er näher, berührt er die Leute umso mehr. Erst Paris und Nizza, nun Berlin. Die Gefahr ist hier und jetzt. Der Fußball hat eine enorme Reichweite, er kann Probleme nicht lösen, aber er kann positive Signale aussenden, Zeichen setzen. Und Solidarität zu zeigen, das ist vielleicht das Einzige, was wir tun können.

STANDARD: Leben Profifußballer in einem Paralleluniversum?

Baumgartlinger: Nein. Wir sind extrem nah dran, bei der EM sind wir auf Schritt und Tritt bewacht worden. Man lebt mittendrin in dieser Gefahr. Aber du musst dich davon befreien, sonst kannst du nicht mehr normal Fußball spielen, nicht gesund leben.

STANDARD: Fußball ist Teil der Unterhaltungsbranche. Udo Jürgens sagte einmal, Unterhaltung habe etwas mit Haltung zu tun. Sollen Fußballer Stellung beziehen?

Baumgartlinger: Dem großen Udo Jürgens widerspricht man nicht, er hat auf jeden Fall recht. Wir haben eine Vorbildfunktion, eine Verantwortung, der es gerecht zu werden gilt. In der heutigen Zeit ist es allerdings schwierig geworden, Stellung zu beziehen, die Meinung kundzutun. Alles wird polarisiert und zerpflückt, speziell in den sozialen Medien. Ein schmaler Grat. Und dennoch: Ja, Udo hat recht!

STANDARD: Hasspostings sind ein Problem, man muss sich für Dinge rechtfertigen, die man gar nicht getan hat. Eine Enthemmung der Gesellschaft ist feststellbar. Wie gehen Sie mit diesen Entwicklungen um?

Baumgartlinger: Sehr vorsichtig. Was bei der Bundespräsidentenwahl oder im US-Wahlkampf abgegangen ist, was da für Falschaussagen in Umlauf gebracht wurden, da kann und will ich nicht mehr durchblicken. Ich habe mich persönlich von diesen Netzwerken verabschiedet, will kein Teil davon sein, habe meine Accounts gelöscht. Es geht nur um Klicks, nicht um Inhalte, Wahrheiten oder Verantwortung. Ich konzentriere mich auf seriöse Medien.

STANDARD: Welche Gefahren kommen auf den Fußball zu? Man hat das Gefühl, es geht nur ums Geld, um die Gewinnmaximierung. Die WM soll auf 48 Teams aufgestockt werden, in der Champions League sind die Großen und Reichen bevorzugt, die englische Premier League und China kaufen den Markt leer. Platzt diese Blase, muss diese Gier nicht irgendwann ein Ende haben?

Baumgartlinger: So geht es hoffentlich nicht weiter. Der Markt wird sich regulieren, denn das System ist krank. Manipulation und Korruption sorgen dafür, dass man sich von der Basis, dem Spiel an sich, vom ehrlichen Wettbewerb, verabschiedet hat. Auch die Aufblähung ist ein Problem, die Europameisterschaft hat bereits darunter gelitten, Qualität und Interesse sind gesunken. Die Brisanz geht verloren, weil in Frankreich praktisch eh jeder weitergekommen ist. Österreich war leider die Ausnahme. Es ist auch bedenklich, wie sich das Spiel taktisch entwickelt. Nur mehr mit Fünferkette verteidigen, reaktiv sein. Das romantische Bild, ein Match zu leben, mit dem Ball dominant zu sein, will fast keiner mehr. Weil das Konstruktive schwieriger zu realisieren ist als das Destruktive.

STANDARD: In Deutschland sind in 16 Runden bereits sieben Trainer und drei Sportdirektoren entlassen worden. Was soll diese Panik, diese Hysterie?

Baumgartlinger: In Deutschland rückt alles näher zusammen, nicht einmal die Bayern sind wirklich unantastbar. Alle rangeln um die Plätze, dadurch wird die Fluktuation höher, Geduld wurde abgeschafft. Die Zeit, etwas zu entwickeln, bekommt kaum mehr ein Verantwortlicher. Entwicklung ist etwas für Romantiker.

STANDARD: Wächst auch der Druck auf den einzelnen Spieler? Konkurrenzkampf mag zwar wichtig sein, andererseits kann man an dieser Ellbogengesellschaft zerbrechen. Sie sitzen in Leverkusen ja auch oft nur auf der Bank.

Baumgartlinger: Ich habe bewusst die Herausforderung Leverkusen angenommen. Mir war klar, damit umgehen zu müssen, nicht jedes Spiel zu spielen, in ein Rotationssystem zu geraten. Einmal nicht zu wissen, warum du auf der Bank sitzt. Der Druck steigt. Lieferst du nicht, musst du dir einen anderen Verein suchen. Das ist in Topligen so, das ist der Beruf.

STANDARD: Ihr Jahr war durchwachsen. Im Sommer der Transfer von Mainz nach Leverkusen, die verpatzte EM, die WM-Quali begann holprig. Marcel Koller hat Sie zum Kapitän ernannt. In dieser Funktion mussten Sie vor allem erklären, warum es schon wieder nicht geklappt hat. Mühsam, oder?

Baumgartlinger: Nein, das ist absolut in Ordnung. Zwei Jahre lang waren wir nur mit Lobhudelei konfrontiert, da hat auch niemand gefragt, ob das anstrengend ist. Ich biete Erklärungen an, will Lösungsansätze aufzeigen und vermitteln. Ausreden lehne ich ab.

STANDARD: Versuchen wir eine Lösung zu finden. Warum ist das Nationalteam momentan so, wie es ist? Die Automatismen scheinen verlorengegangen zu sein.

Baumgartlinger: Automatismus sagt sich leicht in Phasen, in denen es läuft, keiner groß nachdenkt, alle fit und glücklich sind und so alle Spiele gewonnen werden. Die Gegner haben uns mittlerweile analysiert, sie wissen, wie Österreich seiner Stärken beraubt werden kann. Das hat dazu geführt, dass wir in einer ganz anderen Situation sind. Mit dieser neuen Rolle tun wir uns schwer. Im Moment des Erfolgs wurde verpasst, den nächsten Schritt zu setzen. Was machen wir, um noch besser zu werden? Wir brauchen eben den Weitblick, den wir möglicherweise zuvor nicht hatten.

STANDARD: Eine ewige Diskussion betrifft die Gehälter. Sind Fußballer überbezahlt? Ronaldo oder Messi, gewiss Multimillionäre, umgehen oder hinterziehen Steuern. Es wird ihnen aber gar nicht so übelgenommen, es gibt nicht den großen Aufschrei. Wie ist das zu erklären?

Baumgartlinger: Das ist tatsächlich komisch, vor allem, wenn man die Zahlen hört, da kann einem schwindlig werden. Da schließt sich der Kreis zu Udo Jürgens und der Haltung. Wir Spieler tragen Verantwortung, wenn wir solche Unsummen verdienen. Deswegen gibt es ja in Österreich oder Deutschland ein gutes Sozialsystem. Das funktioniert nur, weil wir voneinander leben, weil wir Steuern zahlen. Als Besserverdiener bist du der Gesellschaft verpflichtet. Das sollte auch für Ronaldo, Messi und Wirtschaftsbosse gelten. Fiskalvergehen sind keine Kavaliersdelikte. Fußballer in Topligen sind exorbitant gut bezahlt. Ob ihnen das gebührt oder nicht, ist ein anderes Thema. Ich denke mir, ich habe nur eine kurze Karriere, muss Entbehrungen auf mich nehmen. Bitte kein Mitleid, ich mache es ja gerne. Und zahle Steuern.

STANDARD: Wünsche an die gute Fee, die es vermutlich nicht gibt?

Baumgartlinger: Sportliche Wünsche habe ich keine. Fußball ist immer ein schönes Auf und Ab, eine Achterbahnfahrt. Ich wünsche uns als Gesellschaft, Abstand von dem Abschottungsdenken, dem Angstdenken zu gewinnen. Die Isolation, die aktuell vermeintlich alle Lautstarken anstreben, führt zu unabsehbaren Problemen. Wie sollten merken, dass es uns recht gut geht. Ich könnte mir auch Weltfrieden wünschen, aber das klingt ein bisserl zu sehr nach Miss Oberösterreich. (Christian Hackl, 30.12.2016)