Magnus Carlsen greift nach den Steinen. Einmal mehr heißt sein größter Gegner Sergej Karjakin.

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Doha – "Don’t let the fingers play" – die alte Gitarristenweisheit gilt auch fürs Blitzschach: Es ist der Kopf, der Schach spielen muss, die Finger sind nur ausführendes Beiwerk. Dreht sich die Hierarchie um, wird da eine Figur eingestellt und dort ein einzügiges Matt übersehen.

Der bei der WM in Doha gültige Modus von drei Minuten Grundbedenkzeit plus zwei Sekunden Bonus pro Zug lässt dem Kopf freilich nicht viel Zeit, seine Arbeit zu tun. Wichtig ist ein rascher aber gleichmäßiger Zugrythmus, der nur an pointierten Stellen der Partie durch ein wenig echtes Nachdenken unterbrochen werden darf.

Beeindruckend, auf welchem Niveau die Weltspitze auch unter so extremem Zeitdruck Schach zu spielen im Stande ist – echte Einsteller haben in Doha Seltenheitswert. Und selbst wenn den Spielern nur noch wenige Sekunden verblieben sind, wird kaum panisch drauflosgehackt: Einen Mehrbauern verwerten die Cracks im allgemeinen auch im Zweisekundentakt ohne viel Federlesens.

Fernsehschach

Schachweltmeister Magnus Carlsen hat am Vortag seine WM-Krone im Schnellschach verloren und würde sich dafür gerne selbst entschädigen, indem er nun wenigstens den Blitztitel einfährt, der ihm 2015 in Berlin durch die Lappen und an den Russen Alexander Grischtschuk ging. Auch im Blitzschach ist Carlsens Elozahl ein Eck höher als die aller seiner Konkurrenten, der Norweger somit Favorit.

Nicht nur deshalb ist der Weltmeister für das Turnier an Brett eins gesetzt, das er wie im Schnellschachbewerb auch dann nicht verlassen wird, wenn andere Spieler ihn punktemäßig überflügeln sollten: Das norwegische Fernsehen überträgt die Züge des Maestro in die skandinavischen Wohnzimmer, ein Platzwechsel des Champions nach jeder Runde wäre diesem Unterfangen abträglich, Carlsen darf deshalb auf seinem Plätzchen sitzen bleiben.

Alte Bekannte

In den ersten Runden wäre der Weltmeister allerdings so oder so nicht aufgestanden. Denn Carlsen legt los wie die Feuerwehr, startet mit drei Siegen und bequemt sich erst in Runde vier zu einem ersten Schwarzremis gegen den starken Kubaner Leinier Dominguez Perez.

Nur gibt es einen, der mit vier aus vier noch besser gestartet ist als der Norweger: Sergej Karjakin, am Vortag im Schnellschach noch unter ferner liefen, hat mit vier Punkten eine perfekte Punkteausbeute vorzuweisen. So sitzen einander die beiden, die sich vor wenigen Wochen in New York um den WM-Titel im klassischen Schach duellierten, nun in Runde fünf in Doha erneut gegenüber.

Und ausgerechnet für diese Partie hat sich Magnus Carlsen den einzigen echten Bock aufgehoben, den er in den ersten zwölf Runden dieses Turniers schießen wird. Ausgangs der Eröffnung stellt der Weltmeister per Springergabel Material ein, muss die Dame für einen von Karjakins Türmen geben, die Sache scheint gelaufen.

Eine Frage der Technik

Dann allerdings zeigt Karjakin Nerven. Beide Uhren schwingen sich in Richtung Bonussekunden ein, und der Russe macht bei der Verwertung seines Vorteils wenig Fortschritte, lässt schließlich sogar den Übergang in ein bauernloses Endspiel zu, in dem die nackte schwarze Dame dem einsamen weißen Turm gegenübersteht.

Natürlich wissen in diesem Moment beide Spieler, dass das Endspiel für Karjakin technisch gewonnen ist. Aber es ist der Russe, der mit wenig mehr als zwei Sekunden pro Zug von dieser abstrakten Erkenntnis zur Ausführung der richtigen Zugfolge mit tödlichem Doppelangriff auf Carlsens König und Turm gelangen muss. Ein simpler Mehrbauer, er wäre Karjakin in diesem Moment womöglich lieber als dieses in der Praxis seltene Endspiel.

Carlsen in Schwung

Am Ende macht Karjakin den Sack dann doch noch zu und liegt mit fünf aus fünf alleine in Führung. Auf Carlsen aber hat die ärgerliche Niederlage denselben Effekt wie seine Verlustpartien im vorgelagerten Schnellschach-Turnier. Der Weltmeister macht in den Runden sechs bis zehn fortan keine Gefangenen mehr, gewinnt eine Partie nach der anderen und ist somit als Einziger in der Lage, das Tempo Karjakins mitzugehen, der weiterhin ohne Niederlage bleibt, sich aber mehrere Unentschieden genehmigt.

Am Ende des ersten Tages liegen die beiden einstigen Wunderkinder mit je zehn Punkten aus zwölf Partien gemeinsam in Führung, eine vierköpfige Verfolgergruppe weist bereits eineinhalb Punkte Rückstand auf. "Mein Spiel war heute ganz ordentlich", sagt Carlsen dazu, bescheiden wie er halt ist, und freut sich im übrigen auf den zweiten Turniertag.

Titelverteidiger Alexander Grischtschuk verkehrt mit siebeninhalb Punkten übrigens vorläufig nur auf dem siebzehnten Platz, allerdings: Am morgigen Freitag werden neun weitere Runden gespielt, das Klassement kann durchaus noch heftig durcheinandergewürfelt werden.

Bei den Damen liegt Alexandra Kosteniuk mit siebeneinhalb aus neun einen halben Punkt vor der Chinesin Ju Wenjun. Auch die frischgebackene Schnellschach-Weltmeistrein Anna Musytschuk befindet sich mit sechseinhalb Punkten noch in Schlagdistanz. Der zweite und finale Tag der Blitzschach-WM beginnt morgen, Freitag, um 13h mitteleuropäischer Zeit. (Anatol Vitouch, 29.12.2016)