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Dirigent Sascha Goetzel ist ein Fan des Risikos und der Intensität beim Musizieren: "Klar will man wenig Fehler haben. Die besten Aufnahmen, die es gibt, sind allerdings voller Fehler."

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Wien – Etwas Stress hat Sascha Goetzel schon. Wiewohl er zum Jahreswechsel an der Staatsoper arbeitet, gegenwärtig Die Fledermaus probt und es wegen Sängererkrankungen Umstellungen gibt, wirkt er eher zufrieden. "Dieses Werk zu dirigieren, ist eine Herzensangelegenheit. Ich habe es als Kind erlebt und habe diese delikate Reflexion der Gesellschaft später auch gespielt."

Wie interpretiert er dies so oft Gehörte? "Es darf nichts überkandidelt wirken, darf nicht gepusht werden und komödiantisch derb daherkommen, sonst wird es ordinär. Den Frosch etwa legt Peter Simonischek sehr fein an", meint Goetzel, der auch das Orchester bewundert. "Es hat unendliche Erfahrung, als Dirigent ist man quasi im Schlaraffenland, die Musiker lesen die kleinste Handbewegung ab, es gibt nicht viel zu erklären. Es geht eher ums Zulassen, Weiterführen und Aufnehmen dessen, was vom Orchester kommt." Man müsse natürlich wissen, "wie man die Klänge bekommt. Und das braucht an sich Zeit. Aber wir haben bei der Bohème, die ich dirigiert habe, Vertrauen aufgebaut." Davon profitiere man nun.

Eigenen "Dialekt" finden

Goetzel, der bei den Wiener Philharmonikern einst als Geiger Erfahrungen gesammelt hat, reist viel. Zentral ist jedoch sein Job in der Türkei. Dort ist er Chefdirigent des Borusan Istanbul Filarmoni Orkestrasi: "Es sind junge Musiker, Durchschnittsalter 35. Sie sind dynamisch, kommen aber aus unterschiedlichen Schulen, haben unterschiedliche ,Klangdialekte' gelernt. Es geht nun darum, übers Repertoire einen eigenen ,Dialekt' zu finden. Es ist ein energischer Klangkörper, ich bin stolz auf die auch internationale Anerkennung, die wir nun haben."

Goetzel setzt auf Kontinuität, auf die Rolle als Orchestererzieher und nennt Dirigenten als Vorbilder, "die ihre Orchester klangmäßig weiterentwickelt haben. Mariss Jansons tat es in Oslo, Simon Rattle in Birmingham und auch Sergiu Celibidache in München. Man muss ja auch zusammenwachsen."

Gelernt hat Goetzel vor allem von Seiji Ozawa ("Er war mein Lehrer"), Gewichtiges aber auch von Zubin Mehta, Riccardo Muti, Bernard Haitink und Georg Solti, die "ich gefragt habe, ob sie sich Videos ansehen könnten, auf denen ich dirigiere". Von der Haltung her war auch Nikolaus Harnoncourt wesentlich: "Er sprach von der Gratwanderung zwischen Schönheit und Sicherheit, sprach davon, dass Perfektion von der Schönheit entferne. Er hat jedes Risiko genommen – dafür hat man ihm dankbar zu sein."

Das Adrenalin

Es sei Interpretation ja "ein Diskurs, und davon sollte es mehr geben. Wenn uns etwas künstlerisch aufregen kann, ist das schon viel wert. Klar will ich wenig Fehler. Die besten Aufnahmen, die es gibt, sind jedoch voller Fehler!" Oft sei es so, dass wegen eines Anfangspatzers durchs Orchester ein Adrenalinschub gehe, der schließlich besondere Intensität entstehen lässt. Leopold Stokowski habe gesagt, so Goetzel: "Wenn es aufregend klingen soll, muss es auch einmal durcheinandergehen."

Alles nicht so leicht, nicht ohne Kraftverzehr: "Wir Künstler versuchen unsere Seele zu den Leuten zu tragen, Zugang zu ihnen zu finden, das kann einen auffressen. Es ist da eine besondere Spannung. Ich kenne niemanden, der ganz locker in eine Vorstellung geht; und es geht darum, die Spannung produktiv umzusetzen. Im Idealfall unterstütze ich jeden einzelnen Musiker, muss offen sein, darf mich nicht schützen, darf keine Mauer aufbauen. Wenn man den Atem des Orchesters nicht spürt, hat man ein Problem."

Bei der Beurteilung der Politik in der Türkei ist Goetzel bewusst zurückhaltend: "Wenn ein Land so erschüttert wird, hat es eine schwere Zeit. In sein Gefüge kann ich natürlich nicht genau hineinsehen, ich kann nur sagen: Das Verhältnis zum Westen hat sich verschlechtert. Und: Meine Oma hat gesagt, die österreichischen Diplomaten sind Brückenbauer. Im Moment hat man nicht das Gefühl. Für jemanden wie mich, der viel hin und her reist, wirkt das Verhältnis emotional auf beiden Seiten zu aufgeladen." Es sei die Aufgabe der Kunst also, quasi mit Emotion zu deeskalieren. (Ljubiša Tošić, 31.12.2016)