Blumen und Trauer vor dem den Eingang des Istanbuler Nachtklubs Reina, wo zuvor bei einem Anschlag mindestens 39 Menschen getötet worden sind. Das Reina galt als Treffpunkt reicher Säkularer.

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Istanbul/Athen – Die Polizei sucht noch fieberhaft nach dem Terroristen, im Halbdunkel eines richterlich verfügten Berichtverbots und in einem Strudel von Spekulationen, als sich die Opposition in der Türkei zu Wort meldet. Wer die Einheit von 79 Millionen Menschen wolle, müsse aufhören, die Gesellschaft zu spalten, sagt Metin Feyzioglu, der junge Präsident der Anwältekammern.

Sein Aufruf ist an Tayyip Erdogan gerichtet, den autoritär herrschenden Staatschef. Eine Nation in Qualen spricht. Nach einem fürchterlichen Jahr der Terroranschläge, eines Putschversuchs und seither täglichen Massenverhaftungen beginnt auch 2017 mit einem Blutbad. Mindestens 39 Menschen starben im berühmten Istanbuler Nachtklub Reina in der Neujahrsnacht, erschossen, manche möglicherweise auch zertrampelt von den fliehenden Gästen.

Weißes Kostüm

1.23 zeigt die Uhrzeit einer Sicherheitskamera im Reina, als ein Mann in einem weißen Kostüm mit einer Zipfelmütze in gebeugter Haltung an einem weiß gedeckten Tisch vorbeigeht, ein Gewehr im Anschlag. Eine Waffe mit einem langen Lauf, wird der Gouverneur von Istanbul später sagen. Vali Vasip Şahin geht von einem einzelnen Täter im Nachtklub aus.

Mindestens 39 Menschen sind bei dem Anschlag getötet worden, vier von ihnen waren am Sonntag Abend noch nicht identifiziert. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntagabend berichtete, handelt es sich bei den Toten um 25 Männer und 14 Frauen.

Von den 35 identifizierten Todesopfern sind 11 türkische Staatsangehörige, die anderen 24 Ausländer verschiedener Nationalitäten. Österreicher sind nicht unter den Opfern. Bei dem Blutbad kurz nach Anbruch des neuen Jahres waren nach Regierungsangaben zudem 65 Menschen verletzt worden.

Einzeltätertheorie

Am Sonntagabend ging schließlich auch die Polizei von einer Einzeltätertheorie aus. Sie veröffentlichte ein Passfoto eines mutmaßlichen Attentäters. Es soll sich um einen ausländischen Staatsbürger handeln. Die Terrormiliz IS behauptete auf Twitter, hinter der Tat zu stehen. Der Täter soll erfolgreich entkommen sein, heißt es.

Zeugen im Reina sprechen dagegen von zwei oder gar drei Angreifern. Der eine habe nach Opfern Ausschau gehalten, der andere gefeuert, so wird ein Augenzeuge zitiert.

Zensur gilt

Auch ein anderes Bild findet in den sozialen Medien den Weg vorbei an der Zensur. Es zeigt den Attentäter, einen schlanken, jüngeren Mann mit Zipfelmütze, aus dem Winkel einer Kamera an der Decke. Der Angreifer zieht gerade seine Jacke aus. Nach dem knapp zehn Minuten dauernden Albtraum ist er verschwunden.

Doch das Mysterium bleibt: Es habe gar keinen Attentäter im Kostüm eines Weihnachtsmanns gegeben, so erklärt der türkische Regierungschef Binali Yildirim nach einer Sitzung mit Ministern und Sicherheitschefs im Dolmabahçe-Palast in Istanbul. Und der Angreifer habe seine Waffe zurückgelassen, so sagt der Premier. Für die Ermittler muss dieser Fund eine enorme Quelle sein.

Sonntagnachmittag verbreitet sich dann die Nachricht von einer Schießerei bei einer Moschee im Stadtviertel Sariyer. Es liegt auf dem Weg von Ortaköy, dem Ausgehviertel am Bosporus mit dem Nachtklub Reina, Richtung Norden. Hat die Polizei den Attentäter gefunden?

Das Reina ist nicht irgendein Ziel. Der 2002 eröffnete Komplex mit Restaurants, Bar und Diskothek galt lange als Istanbuls wichtigste "Welthütte". Der Treffpunkt für alle Schönen und Halbseidenen zwischen Moskau und Mumbai, für Geschäftsreisende und Touristen aus Europa und natürlich für die türkische Show- und Glitterwelt. Der frühere georgische Staatschef Michail Saakaschwili saß hier des Öfteren. Michael Schumacher kam auch einmal vorbei und bestellte sich ein alkoholfreies Bier an der Bar.

Die Lage des Reina ist unschlagbar: direkt am Bosporus und unterhalb der nächtlich erleuchteten Bosporusbrücke – die Nahtstelle zwischen Orient und Okzident.

"Die Glaubensfeinde"

Das Reina ist der Treff der reichen Säkularen. Vielen kommen am Sonntag die Aufrufe türkischer Islamisten in den Sinn. Cübbeli Ahmet Hoca, ein exzentrischer Sektenführer, gehört zu ihnen. Er hat auch dieses Jahr wieder einmal gegen Weihnachten und Neujahr gewettert: "Nimm nicht an den Feiern der Glaubensfeinde teil", rief Cübbeli die Muslime in der Türkei auf. Vielleicht, so wird in sozialen Medien spekuliert, nahm ein Fanatiker den Aufruf ernst und griff die Feiernden an.

2500 Gäste sollen im Reina Platz haben. Etwa 800 sind im Klub, als der oder die Attentäter um 1.15 Uhr den jungen Polizisten und einen weiteren Mann am Eingang erschießen und sich Zugang verschaffen. Panik bricht aus. Besucher brechen blutüberströmt zusammen, andere werden ohnmächtig beim Geräusch der näherkommenden Schüsse. Manche wollen arabische Stimmen der Täter gehört haben. Andere sagen, es sei viel zu laut gewesen bei den Schreien der flüchtenden Besucher. Sie springen in den eiskalten Bosporus, verbergen sich unter Tischen, eilen nach draußen auf die Straße. (Markus Bernath, 1.1.2017)