Bild nicht mehr verfügbar.

Frauen werden vom Kalifat offen angesprochen, sagt Jugendanwalt Ercan Nik Nafs. Sie werden als Gattinnen für die Kämpfer rekrutiert, ziehen aber auch in den Jihad, um selbst zu kämpfen.

Foto: AP / Tara Todras-Whitehill

Wien – "Die Radikalisierung innerhalb des islamisch-salafistischen Spektrums ist kein männliches Phänomen mehr", ist in einer aktuellen Anfragebeantwortung des Innenministeriums zu lesen: "Das weibliche Element nimmt mitunter eine tragende Rolle ein." So konnte in den vergangenen Jahren festgestellt werden, dass Frauen vermehrt und aus eigenem Entschluss heraus in Kriegsgebiete reisen, um sich dem Jihad anzuschließen – oder dies zumindest planten, heißt es vom Ministerium. "Das Kalifat hat die Frauen offen angesprochen", erklärt Ercan Nik Nafs, Wiener Jugendanwalt, dem STANDARD den steigenden Frauenanteil. "Sie wurden als Frauen für die jungen Kämpfer rekrutiert und als Propaganda eingesetzt."

Bei 280 Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich lagen am 31. August des vergangenen Jahres Hinweise vor, dass diese nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder reisen wollten, um sich Kämpfern des "Islamischen Staates" (IS) anzuschließen. Zwar machen Männer die Mehrheit der sogenannten "Foreign Fighters" aus, unter ihnen waren aber auch 59 Frauen. Von ihnen wurden 22 an der Ausreise gehindert, 13 sind aus einem Kriegsgebiet wieder zurückgekehrt. Ihnen stehen 74 männliche "Rückkehrer" und 28 Gestoppte gegenüber.

"Für Frauen ist es schwieriger, aus einem Kriegsgebiet zurückzukehren", sagt Nik Nafs, der mit radikalisierungsgefährdeten Frauen arbeitet. In Europa aufgewachsene Mädchen würden oft nicht die Landessprache sprechen, zudem würden sie im Gegensatz zu Männern nicht allein reisen dürfen oder sich im öffentlichen Raum aufhalten und wüssten daher meist gar nicht, wo sie genau sind.

Weg in den Krieg

Zwar würde die Entscheidung, ins Kriegsgebiet zu gehen, letztendlich von den Frauen selbst getroffen, trotzdem würden gerade junge Frauen meist stark von einer Beziehung beeinflusst, sagt Nik Nafs. Die Mädchen seien meist in einer aussichtslosen Situation, würden weder Liebe noch Anerkennung spüren.

Auf der Suche nach "stabilen Strukturen" würde eine gewisse "Sehnsucht" nach klarem Regelwerk entstehen. Ein solches würde durch offensive Anwerbung in islamischen Gruppierungen angeboten, was in der gefühlten orientierungslosen Verfassung der jungen Frauen einen gewissen Halt gebe, und es müsse nicht mehr selbstständig gehandelt werden. "Lösungen werden präsentiert", heißt es vom Innenministerium.

Verschiedene Typen

Zwar gebe es keinen allgemeinen Typus der Jihadistin, gleichwohl würden aber wiederkehrende Verhaltensmuster und Motivlagen erkennbar sein, heißt es in einem Bericht über "Frauen in islamistisch-terroristischen Strukturen in Deutschland" des deutschen Verfassungsschutzes. Auf Basis dessen konnten vier "typische Profile" – drei von von aktiven und eines von passiven Frauen – herausgearbeitet werden.

Der erste Typ zeichne sich durch ein geringer ausgeprägtes traditionell-muslimisch weibliches Rollenverständnis aus. Das bedeute, dass diese Frauen die Rolle als aktive Kämpferin als reale Option wahrnehmen. Im Fokus ihrer Bemühungen stünde die Selbstverwirklichung im Jihad. In diese Gruppe fallen laut deutschem Verfassungsschutz viele Konvertitinnen und in Deutschland aufgewachsene Musliminnen.

Das zweite Profil bilden Jugendliche und junge Erwachsene, die gegen ihre Familie und Gesellschaft rebellieren. Sie idealisieren den Kampf im Jihad. Die jungen Frauen wollen selbstbestimmt aktiv werden und warten nicht auf die Entscheidungen männlicher Bezugspersonen.

Der dritte Typ sind Frauen, die selbst nicht im Mittelpunkt stehen wollen. Sie sehen sich als Vorbild und treten dabei als Missionarinnen für die lokale jihadistische Szene auf. Alle drei Gruppen würden sich aus persönlichen Motiven heraus radikalisieren und unabhängig von Männern agieren.

Die letzte Gruppe – jene der passiven Frauen – habe ein stark ausgeprägt traditionell muslimisches Rollenverständnis. Die Frau wird als gehorsame Gattin empfunden, die ihren Gatten unterstützt. Die Rolle wird im Jihad von Gelehrten unterstützt. Frauen sollen demnach ihre Kinder zu Kämpfern erziehen und die Kämpfer für den Kampf motivieren sowie Verletzte versorgen. Diese Frauen reisen mit ihren Ehemännern in den Jihad.

"Erhöhte Terrorlage"

Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) spricht von einer nach wie vor "erhöhten Terrorlage", auch wenn die Radikalisierung zurückgegangen ist. 130 der "Gefährder" wurden im Jahr 2015 ermittelt, 2016 nur mehr 16. Deradikalisierung bleibt im Innenministerium daher auch 2017 ein Schwerpunkt. Nicht nur Familien und Bekannte potenzieller Gefährder sollen darauf sensibilisiert werden, mögliche Terrorbestrebungen zu melden, sondern auch Nachbarn.

In den meisten seiner Fälle, erzählt Nik Nafs, würden sich die Eltern bei der Jugendanwaltschaft melden und ihre Sorgen kundtun. Frauen, mit denen er arbeitet, seien oft bereits isoliert, hätten kaum Freundeskreise. "Der einzige Bezug, den sie haben, sind diese Männer und die radikalisierenden Gruppen." Ihre Informationen über Religion, das Kalifat und die Verhältnisse in Syrien und dem Irak würden sich die Frauen über das Internet holen. Der "entscheidende Moment" im Radikalisierungsprozess stehe jedoch immer in Verbindung mit persönlichen Kontakten.

Die Fußfessel, jetzt nur Sanktionsmaßnahme, wäre laut Sobotka "ein gutes technisches Hilfsmittel", um den Aufenthaltsort Verdächtiger zu überwachen. Also von Personen, die "als Gefährder erkennbar sind, aber noch nicht in irgendeiner Form mit dem Strafgesetz aus österreichischer Sicht in Konflikt gekommen sind", sagt Sobotka. Dafür müsse man aber die Rechtslage ändern. (Oona Kroisleitner, 5.1.2016)