Mit 10.000 Gipsfaserplatten verkleidet: Für die Formfindung wurden Luftballons in Zement getaucht.

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Spiegelbild eines Budgetskandals: Das schlingernde Schiff wurde wieder auf Kurs gebracht.

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Schon die erste Minute hat es in sich. Auf der 80 Meter langen Rolltreppe, die erst steil ansteigt, um in einer sanften Kurve nach und nach zu verflachen, ehe sie am Ende fast schon einem stufenlosen Förderband gleicht, zeigt sich bereits die kompositorische Anstrengung und Außergewöhnlichkeit des ganzen Hauses. Die Höhenüberwindung könnte dramatischer nicht sein. Denn während der Winkel der elektrisch dahingleitenden Treppe immer flacher und flacher wird, offenbaren sich im groben Putz an den Tunnelwänden runde, eingelassene Glasscheiben. Immer wieder klopfen die Fahrgäste mit den Fingerknöcheln dagegen. Die Fahrt lässt sie ehrfürchtig um sich blicken und verstummen.

Ehrfurchtsgebietend ist nicht nur die architektonische Wirkung des Bauwerks, sondern auch seine skandaldurchtränkte Entstehungsgeschichte. Einst hätte die Elbphilharmonie, Hamburgs jüngstes und stolzestes Wahrzeichen, 77 Millionen Euro kosten sollen. Die Bauzeit war damals für vier Jahre anberaumt. Heute steht fest, dass das in den Himmel ragende Konzerthaus der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron nach zehn Jahren Bauzeit und einem zwischenzeitlich verhängten Baustopp samt gerichtlicher Vertragsaufkündigung mit 866 Millionen Euro zu Buche schlägt. 789 Millionen Euro davon trägt die öffentliche Hand, weitere 77 Millionen Euro lukrieren sich aus Privatinvestitionen und Spenden.

Verzerrt kolportierte Kosten

"Die in den Medien kolportierten Kosten sind verzerrend und ärgerlich", korrigiert Ascan Mergenthaler, Partner bei Herzog & de Meuron, im Gespräch mit dem Standard. "Tatsache ist, dass die Stadt Hamburg die erste Kostenschätzung gegen unseren Rat viel zu früh veröffentlicht hat. Unsere erste Ausschreibung hat ergeben, dass mit Baukosten in der Höhe von mindestens 240 Millionen Euro zu rechnen sei. Heute liegen wir bei 576 Millionen Euro, also durchaus im Bereich internationaler Konzerthäuser."

Die restlichen 190 Millionen Euro, die die Differenz auf die so oft veröffentliche Horrorsumme ausmachen, entfallen auf Hotel und Gastronomie, auf Wohnungen und Garage, auf die gesamten Planungs- und Entwicklungskosten sowie auf einen Facility-Management-Vertrag für die nächsten 20 Jahre. Nun hat die ausgiebig ausgetragene Zahlen- und Ziffernschlacht, die die Hamburger Bevölkerung längst schon in euphorische Musikliebhaber und enttäuschte Wutbürger gespalten hat, ein Ende. Kommenden Mittwoch, den 11. Jänner, wird die Hamburger Elbphilharmonie mit einem bislang unter Verschluss gehaltenen Konzertprogramm feierlich eröffnet.

"Öffnung zur Stadt"

"Das Außergewöhnliche an diesem Gebäude", sagt Mergenthaler, "ist seine Öffnung zur Stadt. Das ist kein elitäres Haus für Klassik, keine hermetische Schmuckschatulle mit samtbezogenen Sitzen, sondern eine Bühne für jeden Geschmack." Einerseits plant Intendant Christoph Lieben-Seutter, vormals zuständig fürs Wiener Konzerthaus und Opernhaus Zürich, eine Bandbreite von Jazz über World Music bis hin zu experimentellen Klängen. Andererseits richtet sich das Haus auch an konzertfremde Besucher. Die Aussichtsplattform in 37 Meter Höhe ist öffentlich zugänglich.

"Das Plateau, das wir auf dem Dach des alten Kaispeichers errichtet haben, ist ein Stückchen Stadt mit Treppen, Gassen, Plätzen, gläsernen Vorhängen und rundumlaufender Empore", so Mergenthaler. Mit Stolz verweist man auf die dramatisch inszenierten Blickbeziehungen zur Nikolaikirche und zum Hamburger Michel, die sich in der 20.000 Quadratmeter großen, raffiniert gebauchten und spielerisch gepunkteten Glasfassade spiegeln. Die schwersten Glaselemente wiegen 1,2 Tonnen und kosteten bis zu 20.000 Euro pro Stück.

Ein Flug durch die Elbphilharmonie.
Elbphilharmonie Hamburg

110 Meter misst das Haus an seiner höchsten und zugleich geografisch exponiertesten Stelle. Als würden sich die Wogen hier oben zu einer gefährlichen Brandung aufschaukeln, markiert die Elbphilharmonie unmissverständlich den Auftakt zur dahinterliegenden, Unesco-geschützten Speicherstadt. Die charakteristische wellenartige Kontur ist kein Zufall. Nicht von ungefähr erinnert die Linie an die 1963 eröffnete Philharmonie in Berlin, die seinerzeit einen radikalen Umbruch in der Konzerthausarchitektur markierte.

Eine Haut wie Krokoleder

"In der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun wurden die Zuschauertribünen erstmals in der Geschichte rund um die Bühne gruppiert", erzählt Ascan Mergenthaler. "Diese sogenannte Weinbergarchitektur haben auch wir uns zunutze gemacht." Und tatsächlich: Als hätte jemand Weinterrassen in den Beton geschlagen, steigt der Große Saal, der bis zu 2100 Menschen fasst, rund um die Bühne in asymmetrisch angeordneten Tribünen hoch.

Trotz der schier riesigen Größe wirkt der 25 Meter hohe Saal warm und gemütlich. Das liegt auch an seiner ausgetüftelten Akustik. "Wir wollten den Menschen möglichst nah an den Musiker bringen", sagt der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota, der den Saal rundum in eine, wie er sagt, "weiße Haut" hüllte. Die hochverdichteten Gipsfaserpaneele, 10.000 Stück an der Zahl, weisen zig Millionen Mulden auf. Die ersten Tests erfolgten noch mit Luftballons, die in flüssigen Zement gedrückt wurden. Später dann generierte der Computer einen sogenannten Voronoi-Algorithmus. Die Struktur, die an einen Krokoleder-Negativabdruck erinnert, lässt den Schall ähnlich brechen wie in einem stark ornamentierten Barocksaal.

Symphonie mit Hartgummi

Um Brahms und Mendelssohn Bartholdy gegen vorbeischippernde Schiffshörner abzuschotten, wurde die gesamte Betonstruktur vom Rest des Gebäudes schalltechnisch komplett entkoppelt. Der Musikgenuss ruht und schwingt nun auf 60 Zentimeter großen Feder- und Hartgummi-Paketen. Allein dafür schon musste der in den Sechzigerjahren errichtete Backsteinbau, in dem einst Tee, Tabak und Kakao gelagert wurden, mit 600 Pfählen statisch ertüchtigt werden.

Die Initiative zum Bau der Hamburger Elbphilharmonie geht auf den New Yorker Projektentwickler Alexander Gérard und die Linzer Kunsthistorikerin Jana Marko zurück. Es war ihre Idee, Herzog & de Meuron zu einer Studie einzuladen und den alten, ungenutzten Kaispeicher zwischen Sandtorhafen und Grasbrookhafen – ohne internationalen Wettbewerb, wohlgemerkt – mit einem Konzerthaus aufzustocken.

Die eine Wahrheit ist: Die Elbphilharmonie ist ein Skandalprojekt mit Direktvergabe, Kostenexplosionen und unzähligen Bauverzögerungen. Die andere Wahrheit ist: Hinter dem kolossalen Jahrhundertbau standen jahrelang starke Frauen und Männer, die den medialen und politischen Angriffen mit beachtlichem Rückgrat Widerstand leisteten. Oder, wie Hamburgs Bürgermeister meint: "Zur großen Welle der Zustimmung, die das Projekt heute trägt, gehört, dass wir das schlingernde Schiff wieder auf Kurs gebracht haben." Und das ist der eklatante Unterschied zu anderen deutschen Baublamagen wie Stuttgart 21 und Flughafen Berlin. (Wojciech Czaja, 8.1.2017)