Literarisch tief gesunken: Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa.

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Mario Vargas Llosa, "Die Enthüllung". Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. € 24,70 / 300 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2016

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Am Anfang entdecken Marisa und Chabela aus der obersten Oberschicht Perus im Halbschlaf handgreiflich ihre lesbische Zuneigung zueinander. Das erste Kapitel führt ihre sexuellen Begierden in detaillierten Nahaufnahmen vor, danach kommt der Roman auf eine grobe Erpressung, deren Opfer einer der reichsten Männer in Lima ist. Sex and Crime, das ist der Bodensatz, auf den Mario Vargas Llosa sein neues Buch Die Enthüllung stellt, verknüpft mit den politischen Zuständen im Lande.

Marisas Gatte Enrique herrscht über ein Bergbau-Imperium, wegen Fotos von einer Orgie sucht ihn der schmierige Herausgeber des Revolverblattes Enthüllt heim. Mit seinem Freund seit Jugendtagen, dem Anwalt Luciano, Chabelas Ehemann, will sich Enrique wehren – und begeht einen schweren Fehler. Der Skandal beschäftigt ganz Peru, bis zu den Spitzen des Staates.

In seinem Sog strudeln sich einige Figuren ab, von einem abgetakelten Varietékünstler bis zum gefürchteten "Doktor", dem Präsidentenberater und Chef des Geheimdienstes. Die Perspektive der Erzählung folgt den verschiedenen Protagonisten bis unter die Bettdecken. Die aufgesplitterte narrative Vorgangsweise soll offenbar ein disparates Bild zeigen, dessen Teile nach und nach zusammenpassen. Wie auch bei der Lektüre erst nach und nach deutlich wird, was auf den Orgienfotos zu sehen sein und wie im Hintergrund die Staatsspitze agieren könnte.

Sukzessive versteht man, dass es hier um eine vergangene Epoche geht: den Anfang vom Ende der Fujimori-Diktatur, als Geheimdienst, Presse, Leuchtender Pfad und Túpac Amaru in Schrecken versetzten. Seit 1990 beanspruchte der Präsident Perus über ein Jahrzehnt hinaus ungeteilt die Macht, die Opposition ließ er vom Apparat des "Doktor" Vladimiro Montesinos und von der Skandalpresse einschüchtern.

Kulturverlust

Montesinos, heißt es im Roman, habe mit kolumbianischen Drogenbossen gedealt. "Ein wahrer Glücksfall" seien für ihn 1990 jene Wahlen gewesen, "die am Ende dem Ingenieur Alberto Fujimori den Sieg brachten. Zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang hatte die Marine herausgefunden, dass Fujimori nicht Peruaner war, sondern Japaner." Montesinos sorgte dafür, dass alle Beweise, die Fujimoris Wahl verhindert hätten, verschwanden. Was nicht im Roman steht: Der aussichtsreiche Gegenkandidat war – Mario Vargas Llosa.

Die tatsächlichen politischen Hintergründe sind einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum wohl kaum bekannt. Da jedoch mit ihrer Kenntnis der Roman als späte Abrechnung erscheint, hätte der Verlag zumindest auf die gescheiterte Kandidatur von 1990 hinweisen müssen. Man würde hinter einigen Passagen weitere Intentionen sehen, etwa die Enttäuschung des Kandidaten, wenn es heißt: "das konnten die Peruaner gut: die Schuhe lecken, die einen treten".

Für das Original hat Vargas Llosa den Titel Cinco esquinas, "Fünf Ecken", gewählt. Er benennt ein altes Künstlerviertel von Lima, das völlig heruntergekommen ist. Hier kreuzen sich viele Romanwege, es ist zudem ein Sinnbild für einen schreienden Kulturverlust.

Einen allgemeinen Kulturverfall hat der Nobelpreisträger 2013 im Essayband Alles Boulevard gegeißelt. Mit Die Enthüllung geht er ihm selbst auf den Leim.

Wie schon in seinem Roman Das Fest des Ziegenbocks (2000) über die Trujillo-Diktatur in Santo Domingo treten die Figuren als Stereotype auf, die Guten in Weiß, die Bösen in Schwarz. Der Erpresser hat schlaffe, feuchte Hände und ein Haar, "das pomadenglatt auf dem Schädel klebte wie ein Stahlhelm". Die wuschelköpfige Journalistin des Skandalblatts ist schmächtig, trägt Jogginghosen, zerknitterte Blusen und Turnschuhe, während die beiden reichen Freundinnen wunderhübsch daherkommen.

Holzschnitt

Den Holzschnitt der Charaktere verstärkt eine mitunter kitschige Übertreibung. Oft sind die Figuren "leichenblass" und "zu Tode erschrocken", in ihnen "kocht" die Wut "wie Lava". Die wenig inspirierte Sprache schlägt sich auf Crime and Sex. Man zittert vor Empörung und bebt vor Lust.

Nun hat Vargas Llosa im März dieses Jahres der Zeitung El País erklärt, der Unterschied zwischen Pornografie und Erotismus sei eine Frage der Qualität, Erstere sei "schlecht geschriebener Erotismus". Damit bezichtigt der Nobelpreisträger sich selbst. Seine Sexszenen sind ein sprachlicher Jammer, jedenfalls in der deutschen Übersetzung: Marisa "bebte von Kopf bis Fuß und verging vor Lust", sie spürte "die pitschnasse, pulsierende Öffnung", die "sich vor Sehnsucht wölbte", ihre Freundin "bebte" ebenfalls und "schmiegte sich" an ihren Körper.

Bitte, wie soll das gehen, beben und zugleich schmiegen, und wie wölbt sich eine Öffnung? Was Vargas Llosa hier bietet, ist eine Altmännerfantasie vom Lesbensex. Das macht im Schlussteil ein einfacher erzählerischer Trick nicht wett, indem eine Reißverschlussprosa die Figurenebenen durcheinandermengt. So wird alles eins: die Reichen und die Korrupten, der Geheimdienst und das Klatschblatt, die Mächtigen und die Prostituierten.

Um es in der Drastik des Romans zu sagen: Während der "Doktor" Peru fickt, fickt die Oberschicht sich selber bis zum vollends kitschigen Ende. Obwohl er die Epoche in ihren Tiefen miterlebt hat, macht Vargas Llosa sie literarisch zur Kolportage. Oberflächlich schreibt er über Oberflächlichkeit. So hieß es denn in Reaktionen aus der spanischsprachigen Welt, seine Dekadenz sei eine "ofensa a los lectores".

Und man fragt sich, wie der Autor großartiger Werke wie Gespräch in der Kathedrale (1969) und Der Krieg am Ende der Welt (1981) so tief sinken konnte. Nunmehr alles Boulevard? (Klaus Zeyringer, Album, 14.1.2017)