Zurück in Lipezk, zeigte mir Maria ihre Heimatstadt. Oder besser gesagt eine Anhäufung von Straßen-, Gebäude- und gefährtähnlichen Objekten, die eine Stadt zu mimen versuchten. Sah man eine Häuserfront, fehlte meist eines der Fenster, der Putz bröckelte ab und Kabel hingen nutzlos aus den Wänden. Die Straßen voller Mulden, die Laternen verbogen, die Stromleitungen provisorisch geflickt, die Hunde zerzaust und mit kahlen Stellen im Fell, die Gesichter der Menschen grau und unglücklich.

Zwar bin ich Straßen voller deprimiert aus der Wäsche guckender Menschen auch aus Wien gewöhnt, doch im Unterschied zu meiner Heimat haben die Menschen im 2.000 Kilometer entfernten russischen Industriestädtchen guten Grund dazu, wo nichts zur Gänze ist, was es sein soll, aber fast, zusammengeschustert eben, russisch – wie man in Europa zu sagen pflegt.

Von "Assis" am Strand

Die heißesten Tage des Jahres drehten nun so richtig auf. Die Klimaanlagen in den Wohnungen und Restaurants waren bis zum Anschlag auf Kühlen gestellt – Strom ist billig in Russland. Draußen, auf den staubigen Straßen, wollte keiner der 500.000 Einwohner mehr sein – höchstens an einer der seltenen, öffentlichen Wasserstellen, etwa am Ufer des Woronesch. Das taten auch wir, trafen Susanna – eine Jugendfreundin von Maria – beim Stadtstrand und legten uns auf den schmalen Sandstreifen zwischen Parkplatz und Fluss. Pickepackevoll war es, voll mit "Assis" aller Art, wie meine beiden Begleiterinnen bedauerten. "In dieser Stadt sind Manieren nur schwer zu finden", meinte Susanna.

Und wieder einmal fingen Einheimische an sich bei mir zu entschuldigen, wie ungehobelt die Menschen seien, wie hässlich die Stadt, wie schlecht das Essen und so weiter. Ja, es stimmte, doch ich selbst hätte mich nie getraut, so über die Zustände in Russland zu urteilen, wie es meine Gastgeber selbst taten. Es herrscht nun mal eine andere Mentalität in der zentralen Schwarzerderegion, wo die Menschen für ihre Hartgesottenheit bekannt sind. Während sich die Besucher des Gänsehäufels in Wien über den ein "Alzerl" zu warmen Prosecco erbosen, hauen sich Kumpels in Lipezk nach einer Flasche Wodka die Schnauzen ein – und ich weiß wirklich nicht, welches dieser beiden Übel ich bevorzuge.

"Szenerie" in Lipezk.
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Die Wahrheit über Russland

Viel gab es in Lipezk nicht zu tun, also schlenderten wir abends durch die Straßen, die keine waren, gingen essen und trafen Freunde. Mal kauften wir ein paar Feigen und aßen sie in einem Park unter einem Baum, mal drehten wir eine Runde mit einem alten rostigen Karussell, mal machten wir ein Mittagsschläfchen neben dem laufenden Ventilator. So viele Unterschiede es auch gibt zwischen Europa und Russland, so gleich sehen die Tagesaktivitäten im Endeffekt aus.

Gegen Ende der Reise fragte mich Vlad nach meiner Meinung über Russland – er bat mich, nicht höflich zu sein, so wie ich es die ganze Zeit war, sondern Tacheles zu reden – und ich sagte sie ihm. Ein verständnisvoller Dialog entbrannte, doch ich fürchtete mit jedem Satz, die Grenze zu überschreiten. Zu diesem Zeitpunkt, noch tief im Kulturschock, fiel es mir sehr schwer, etwas Positives an diesem Land zu finden. Vlad meinte, überall auf der Welt seien die Menschen gleich. Das kann ich verstehen, doch die Umwelt ist nicht überall auf der Welt gleich, und diese macht den Menschen zu dem, was er ist. "Sich die ganze Wahrheit über Russland einzugestehen, das geht in Lipezk nicht, denn dann müsste man die ganze Nacht lang weinen", meinte Maria, womit sie sicher recht hat, aber ich weiß nicht, ob es sich in Europa anders verhält.

Von der Krim und von Galgenhumor

In Russland sind sich die Menschen wohl bewusst, dass die Umstände in ihrem Land nicht gut sind, dass sie eine "Krise" durchleben, wie der Opa immer wiederholte. – "Alles wegen der verdammten Krim!", wie die Mutter sagte. Die Sanktionen treffen das Volk unmittelbar, nicht die Machthaber, die mit ihrer verstaubten Politik etwas beweisen wollen.

Eines wäre dem russischen Volk zu wünschen: ein bisschen mehr an politischem Interesse. Anders als in, beispielsweise, Frankreich, wo die Leute gleich auf die Straße gehen, wenn ihnen etwas nicht passt, interessiert sich kaum einer in Russland für Politik. Die alltäglichen Schicksale der Russen, Resultate der Sanktionen, diese wiederum Resultate der Annexion der Krim, sind im Alltag spürbar. Kredite werden nicht vergeben, Selbstständigen bleibt oft nur der Ruin. Menschen, die vor ein paar Jahren noch florierende Geschäfte ihr Eigen nennen konnten, sind mitunter gänzlich verarmt.

Während meiner achttägigen Reise durch Russland habe ich von noch viel schlimmeren Schicksalen gehört, die aus der momentan prekären politischen Situation erwuchsen, doch davon möchte ich hier nicht schreiben. Rosige Zeiten sind es nicht in Russland, und die einzige Waffe, der sich die Menschen gegen den übermächtigen Staatsapparat bedienen können, ist ihr Humor. Sie versuchen über ihr Land zu lachen, über sich selbst, über sich prügelnde "Assis", über nicht kommende Taxis, über nicht funktionierende Busse, über all das Elend – Galgenhumor halt.

Freundlicher als gedacht

Und was bleibt mir von dieser Reise, von den acht Tagen in Russland, dem größten Land unserer Erde? Es bleibt mir nicht die Angst, die ich in Lipezk inmitten besoffener junger Männer verspürt habe, und es bleiben mir nicht die Lautstärke, die Hektik und die Aggression in Erinnerung, die ich in Moskau erfahren habe, sondern die außerordentliche Gastfreundschaft, die mir während all meiner Stationen begegnete. Im Nachhinein finde ich es höchst fragwürdig, dass ich zuerst nur das vermeintlich Negative – das für einen Europäer Unhöfliche und Aggressive, was für einen Russen einfach nur russisch ist – in den Vordergrund gestellt und bemängelt habe, weil ich es nicht gewohnt war. Viel zu oft habe ich bemäkelt, dass dieses oder jenes Verhalten nicht angebracht sei, und dabei ganz die freundlichen Menschen übersehen, die mich über die gesamte Reise begleitet haben. (Markus Szaszka, 10.2.2017)

Letzter Teil der Serie.