Immer in Bewegung, immer auf dem Fahrrad – hier auf dem Weg in sein Fitnessstudio: Chinas hippster Vertreter der Generation 80.0: Wang Deshun, gefeiert im In- und Ausland.

Foto: Johnny Erling

"Die Natur legt fest, wie alt du bist. Aber du bestimmst, wie alt du dich fühlst," lautet Wangs Credo.

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Konfuzius brauchte siebzig Lebensjahre, um zur Ruhe zu kommen und für sich das Maß der Dinge zu finden. Seinen Weg dorthin ließ der Weise für die Nachwelt in seinen Lunyu-Gesprächen aufschreiben: "Mit 15 strebte ich nach Wissen, mit 30 stand ich fest im Leben, mit 40 hatte ich keine Zweifel mehr, mit 50 kannte ich den Willen des Himmels, mit 60 lauschte ich nur nach Wahrem. Mit 70 wusste ich tief im Herzen, wo mein Maß ist."

Als Wang Deshun so alt wie Konfuzius wurde, drehte er erst richtig auf. In eng anliegender Lederjacke und mit dunkler Sonnenbrille kommt er auf seinem Sportrad zur Verabredung im Gym angeflitzt. Maß und Mitte zu finden ist kein Ziel für den flotten Greis. 2015 gewann er mit 79 Jahren einen Preis im 3000-Meter-Eislaufmarathon. Reiten gehört zu seinen Hobbys.

Als er seine schwarze Lederkappe abnimmt, fallen ihm seine silbern glänzenden langen Haare auf die Schultern. Sie passen zum weißen Rauschebart. Kokett sagt er, dass er wie ein ergrauter altchinesischer Wuxia-Meister wirke, der es in den Kungfu-Filmen allein und spielend mit einer Bande junger Kämpfer aufnimmt. Weil diese dem alten Helden nicht ansehen, welch explosives Energiebündel er ist.

Star unter Models

Das wusste Wangs hippes Publikum nicht, als dieser sein spektakuläres Debüt auf dem Catwalk gab. Das war auf der Fashionweek im März 2015 im Pekinger Artviertel 798, als der internationale Modemacher Hu Sheguang eine neue Kollektion farbenfroher Fantasiekleider als Variationen lokaler Bauerntracht präsentierte. Zufällig hatte er zuvor Fotos des Körperkünstlers Wang gesehen – er holte ihn als Blickfang in seine Show. Wang führte in bunter Jacke und Hose die Models über den Laufsteg an.

Im Schlusspart kam er wieder, diesmal aber ohne Jacke. Das Publikum flippte aus. Der halbnackte Dressman habe allen die Show gestohlen, schrieben die "Beijing News". Junge Männer blickten neidisch auf Wangs athletischen Oberkörper mit Waschbrettbauch und straffer Haut, der so ganz und gar nicht zum grauen Kopf passt. Junge Frauen nannten das "total sexy".

Die 30 Sekunden, die Wang auf dem Catwalk abschritt, reichten aus, um ihn in China berühmt und weltweit bekannt zu machen. Internationale TV-Sender stehen Schlange. Alle wollen ihn engagieren. In der kommenden Woche wird er in Mailand für Ermenegildo Zegna laufen, für Adidas Reebok ist Wang auch unterwegs.

Die Models, unter die er sich einreihte, feierten mit ihm vor wenigen Wochen seinen 80. Geburtstag. Wang schmiss eine rauschende Party und sorgte als DJ für die passende Technomusik. Das hat er sich bei seiner Tochter abgeschaut, die Musik studierte und Pekinger Kulturevents als DJane in Schwung bringt, darunter auch die Modenschau im Artviertel 798.

Wang nimmt es mit Humor: "Ist das nicht absurd? Mit einem oberkörperfreien Sekundenauftritt finde ich mehr Nachhall als mit meinem halben Jahrhundert Kunstschaffen. Aber es hat Spaß gemacht."

Wichtiger Körpereinsatz

Jahrzehntelang hatte sich Wang als seriöser Bühnen- und Filmschauspieler durchgebissen. Er übernahm und entwickelte für China die aus Europa kommende Pantomime und die Kunst der lebenden Skulptur weiter, gestaltete Happenings und posierte mit den Leihgaben der in China ausgestellten Figuren von Auguste Rodin. Er schrieb ein Buch über Körperkunst.

1987 durfte er als Vertreter Chinas am Pantomime-Festival in Köln teilnehmen und tingelte durch Europa. Mit 49 brachte er seinen Körper in athletische Hochform und mutete sich dafür täglich vier Stunden Krafttraining zu.

Er probierte alles aus, auch Modellstehen für die Aktmalerei. Diese Geschichte erzählt Wang mit besonderem Stolz. 1979 wohnte er noch mit der Familie in der nordostchinesischen Stadt Changchun und bezahlte mit all seinem Geld das Musikstudium seiner Tochter in der Nachbarstadt Shenyang. "Mir fehlten 5,40 Yuan, um mit dem Zug nach Hause zu fahren." Er sah eine Notiz der Kunstakademie, die ein Modell für ihre Malschüler suchte, und meldete sich kurzentschlossen. "Ich bekam dafür 15 Yuan und konnte nach Hause. Vor allem begriff ich plötzlich, wie wichtig der Einsatz meines Körpers ist."

Alt und frisch

Nachhaltigen Erfolg hatte er damals nicht. 30 Jahre später aber machte ihn sein Catwalk über Nacht zur Kultfigur und zum Objekt feixender Onlinewortspiele. Blogger nennen ihn den "coolsten Großvater Chinas" oder "Laoxianrou" (altes Frischfleisch).

Seine Stärke und Vitalität verdanke er einem festen Tagesrhythmus. Jeden Vormittag verbringe er mit Lesen, darunter auch Drehbücher für neue Filmangebote. Er diskutiere alles mit seiner Frau Zhao Aijuan, die selbst Absolventin der zentralen Theaterschule ist. "Wir beide nehmen künstlerisches Schaffen sehr ernst."

Der Nachmittag ist Workout und Krafttraining vorbehalten. "Mit 70 habe ich mein Pensum auf zwei intensive Stunden pro Tag reduziert."

Das Fitnessstudio, in dem Wang Mitglied auf Lebenszeit ist, liegt vor seiner Haustür, nahe der Großen Mauer Badaling. Zuerst schwimmt Wang mindestens zwanzig Bahnen zur Auflockerung. Wenn er mit Kopfsprung ins Becken eintaucht und loskrault, schauen ihm alle nach.

Am wichtigsten sei Selbstdisziplin, doziert er: "Um 22 Uhr liege ich im Bett und schlafe bis sechs Uhr durch." Ohne acht Stunden Schlaf schaffe es sein Körper nicht, sich "selbst zu regulieren", von den Blutwerten bis zur Verdauung. Wang glaubt nicht an Wunderarzneien oder Ernährungspläne. "Ich esse, was mir schmeckt."

Veranlagung spiele auch eine Rolle für seine gute Konstitution: "Wir waren zu Hause acht Kinder, darunter sechs Jungen. Alle sind so athletisch und gesund wie ich. Das liegt in unseren Genen."

Neues beginnen

Langlebigkeit sei für ihn kein Ziel. Ihn treibe eine Frage an, die er sich immer wieder stelle: "Traust du dich, etwas Neues zu beginnen?" Er hat das zeitlebens gemacht und immer mit der Familie. 1985 zogen die Wangs aus dem Nordosten nach Peking um, um allesamt neu im Filmbereich, auf der Bühne oder im Fernsehen anzufangen. "Die Natur legt fest, wie alt du bist. Aber du bestimmst, wie alt du dich fühlst," lautet Wangs Credo.

Es macht ihn zum Vorbild für die alternde Gesellschaft, in die China schneller als jeder andere Staat hineingeschlittert ist. Medizinischer Fortschritt, bessere Ernährung und eine mehr als dreißig Jahre lang strikt befolgte Geburtenplanung und Einkindfamilienpolitik wirkten zusammen. Sie haben die arbeitsfähige Bevölkerung zwischen 16 und 60 Jahren erstmals schrumpfen lassen. Zwischen 2011 und 2015 ging sie um 30 Millionen Personen zurück. Die Zahl der Alten über 60 schnellte 2014 über die 200-Millionen-Marke.

Massenproblem Demenz

In China glaubten viele, in die Endphase ihres Lebens einzutreten, wenn sie mit 60 Jahren in Rente gehen. So habe er nie gedacht. Wang hat in vier Filmen mitgespielt. Sein jüngster Spielfilm schildert nach einem Roman von Ha Jin das Schicksal des "Herrn Sheng". Wang spielt die Hauptrolle und sein genaues Gegenteil, einen bettlägrigen und dementen Witwer, den eine junge Frau pflegt. Der Film kratzt an Tabus, wenn er auch die sexuellen Bedürfnisse eines Alzheimer-Patienten anspricht, der seine Pflegerin bedrängt, weil er sie, verwirrt, für seine Frau hält.

Demenz ist zum Massenproblem in China geworden. Laut Zivilministerium verlaufen sich im Durchschnitt täglich 1370 demenzkranke Menschen im Land und gehen orientierungs- und erinnerungslos verschollen. Eine halbe Million sind es jährlich.

Wang könnte seine Haare schwarz färben und den Bart abnehmen. So machen es auch Chinas Politiker, um vital zu wirken. Die Vorstellung bringt ihn zum Lachen: "Mein altes Gesicht ist doch mein Kapital." In den Gegensätzen seiner Erscheinung spiegle sich der Wert seiner Kunst wider: "Ich will nicht jung aussehen. Ich bin es auf meine Art immer geblieben."

Konfuzius wurde 72 Jahre alt. Zum 80er verriet Wang einem chinesischen Journalisten, was er sich als Nächstes erträumt: Fallschirmspringer will er werden. (Johnny Erling aus Peking, 14.1.2017)