Mathias Lodd und Tamara Semzov glänzen als Jan und Jennifer, die ihre Schichten bzw. Mäntel nach und nach ablegen und sich angstfrei in den Liebestaumel schmeißen.

Foto: Lupi Spuma

Graz – Eine Liebe auf den ersten Blick nennt man das wohl, was Ingeborg Bachmann in den 1950er-Jahren im Hörspiel Der gute Gott von Manhattan erzählte. Jan und Jennifer widerfährt diese auf der Grand Central Station in Manhattan und lässt sie alles andere nach und nach vergessen, in eine wahnsinnige Utopie gleiten und die von Bachmann beschriebene "Gegenzeit" einläuten.

Die gebürtige Schweizerin Claudia Bossard hat das Hörspiel für das Schauspielhaus Graz für die Bühne adaptiert. Anders als im Text reden Jan (Mathias Lodd) und Jennifer (Tamara Semzov) bei ihrer ersten Begegnung nicht einmal miteinander, bevor sie in ihren ersten innigen Kuss fallen.

Göttliche Missgunst

Einer absoluten, die Ordnung infrage stellenden Liebe waren die Götter in der Literaturgeschichte nie besonders gnädig gestimmt. Zahlreiche Beispiele, etwa Romeo und Julia oder Orpheus und Eurydike, die Bachmann in dem Text auch thematisiert, sind schaurige Belege hierfür. So muss auch der Europäer Jan, der sein Schiff nach Hause verpasst und lieber mit der jungen Amerikanerin ein Zimmer nimmt, bestraft werden. Nach ein paar Tagen ist sie tot, und er fährt doch nach Hause. Verantwortlich für den Tod Jennifers ist offenbar ein schrulliger alter Mann, der Eichhörnchen füttert und sie als Boten mit geheimnisvollen Briefen durch das pulsierende New York schickt. Er hat Jan und Jennifer an ihrem "unbeschreiblichen Lächeln" als solche erkannt, "bei denen es anfängt". Die Welt könnte aus den Fugen geraten, er muss handeln.

Der Text hat zwei Ebenen: Eine erzählt die Liebesgeschichte, die andere eine Gerichtsverhandlung. In dieser soll sich der gute Gott von Manhattan verantworten. Franz Xaver Zach spielt diesen seltsamen Gott als in sich ruhenden, aber energischen Angeklagten, der bald zum Kronzeugen, bald zum Richter mutiert. Die Ankläger, die Vera Bommer und Nico Link spielen, müssen ihm schließlich recht geben und ihn durch einen Mantel des Schweigens geschützt laufen lassen.

"Herzzeit" als dritte Ebene

Bossard begnügte sich nicht mit diesen zwei Ebenen, sondern zieht mit dem Briefwechsel Herzzeit von Bachmann und Paul Celan, der im Vorjahr durch Ruth Beckermanns Film Die Geträumten wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein rückte, eine dritte Ebene ein. Bommer und Link lesen Teile von Herzzeit völlig kitschbefreit ins Mikro.

Die im Briefwechsel festgehaltene Liebe wird in Bossards Inszenierung unverkennbar ein Gegenentwurf zu der von Bachmann idealisierten "Gegenzeit": Hier ein Paar, das sich ohne Wenn und Aber einander in die Arme wirft, körperlich ganz nah ist; dort eines, das von Zweifeln und Ängsten geplagt war, räumlich meist getrennt, aber ehrlich bemüht, eine wirkliche Nähe über Worte herzustellen. Es scheint, dass zwischen den Zeilen eine Intimität entsteht, die zwischen den Laken vergeblich gesucht wird. "Ich möchte jetzt eine Karte haben, die mich dir erklärt", sagt Jan in einem Hotel zu Jennifer, doch diese Karte bleibt ihm verwehrt.

Im Waschsalon des Lebens

Nicht nur durch die Verschränkung mit dem Briefwechsel löst Bossard die Aufgabe, den Hörspieltext auf die Bühne zu hieven, mit Bravour. Auch die Bühne von Monika Annabel Zimmer hilft dabei. Hier dreht sich die Welt in einigen Waschmaschinen immer weiter, die – zweckentfremdet – einmal zu Ticketschranken am Bahnhof, einmal zu Nüsseautomaten oder einfach zu Hotelbetten mutieren. Feuerleitern führen zudem auf eine Plattform: Hier befinden sich die Brooklyn Bridge, der Central Park oder immer bessere, höher gelegene Hotelzimmer, in die das Paar eincheckt, während ihre Liebe vom Boden abhebt.

Lang anhaltender, euphorischer Premierenapplaus. (Colette M. Schmidt, 15.1.2017)