Für die Nachfolge im Amt des EU-Parlamentspräsidenten gibt es so viele Kandidaten wie noch nie. Sieben EU-Abgeordnete treten an, ein Vertreter der EU-Skeptiker zog zurück. Es dürfte mehrere Wahlgänge geben, Last-Minute-Überraschungskandidaten nicht ausgeschlossen.

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In den 38 Jahren seit der Einführung der Direktwahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments 1979 gab es bei der Kür des Präsidenten nie eine echte Überraschung. In der Regel haben sich die beiden großen Fraktionen von Christ- und Sozialdemokraten (EVP und S&D) schon im Vorfeld auf einen Kandidaten oder (bisher nur zwei Mal) eine Kandidatin geeinigt. Zwei Mal kamen Liberale (Alde) zum Zug.

Wer bei Wahlen stimmenstärkste Fraktion wurde, war nicht so wichtig: Um "das Gemeinsame für Europa" hervorzuheben, wurde die Amtszeit von fünf Jahren im Kompromiss aufgeteilt. Im ersten Teil der Legislaturperiode kam eine Partei zum Zug, in der zweiten die andere Partei, die zur Arbeitskoalition mit der EU-Kommission bereit war.

Fein säuberlich aufgeteilt wurden dann nach Mandatsstärke der übrigen Fraktionen auch die Posten der 14 Vizepräsidenten, der Quästoren und der Vorsitzenden in den Arbeitsausschüssen.

Vereinbarung aufgekündigt

Die lange Tradition, dass man im Zweifel konsensorientiert handelt und kooperiert, scheint nun endgültig vorbei, wenn an diesem Dienstag die Wahl des Nachfolgers oder der Nachfolgerin des Sozialdemokraten Martin Schulz ansteht. An sich wäre gemäß einer schriftlichen EVP/S&D-Vereinbarung nun die Volkspartei am Zug. Sie hat in einem internen Auswahlverfahren den früheren EU-Kommissar Antonio Tajani, einen engen Vertrauten des umstrittenen italienischen Ex-Premiers Silvio Berlusconi nominiert.

Dieser ist – wegen Berlusconi – in der eigenen Fraktion nicht unbestritten. Aber das ist nicht der Grund, warum im Plenum wohl die spannendste Präsidentenwahl aller Zeiten stattfinden wird. Zwischen den "Großfraktionen" ist ein regelrechter Krieg um das Spitzenamt ausgebrochen.

"Ende der Sparpolitik"

Auslöser dafür war, dass Schulz im November den EVP/S&D-Pakt infrage stellte, für eine dritte Periode kandidieren wollte, was scheiterte. Daraufhin kündigte der in seiner SP-Fraktion als Chef nicht ganz fest im Sattel sitzende Gianni Pittella die Koalition mit der EVP auf und ein "Ende der Sparpolitik" an. Pittella nominierte sich selber als Schulz-Nachfolger. Dann brachten alle Fraktionen Kandidaten ins Rennen. Ein Abgeordneter der EU-Skeptiker der "Fünf Sterne" zog zurück.

Weil bei so vielen Kandidaten kaum einer in den ersten drei Wahlgängen auf die nötige absolute Mehrheit der insgesamt 751 Mandate kommt, könnten am Ende eine Stichwahl und die einfache Mehrheit entscheiden. Rein rechnerisch scheint Tajani im Vorteil, es gibt eine leichte konservativ-liberale Mehrheit. Aber: Den Ausschlag könnten dann die EU-skeptischen und extremen Rechtsfraktionen geben, mit denen jedoch niemand kooperieren will.

In EVP und S&D, aber auch bei Liberalen, Grünen und der Linksfraktion gibt es nicht wenige, die auf eine Überraschung im letzten Moment hoffen, indem bei einem Patt zwischen Tajani und Pittella eine von einer breiten Mehrheit getragene Kandidatin nachnominiert wird. Ihr Name: Sylvie Goulard, politisch gemäßigte Französin aus der liberalen Fraktion, die fraktionsübergreifend angesehen ist. Ihr Fraktionschef Guy Verhofstadt hat indes Parlamentskreisen zufolge angekündigt, seine Kandidatur zurückzuziehen, um Tajani zu unterstützen. (Thomas Mayer aus Straßburg, 17.1.2017)