Sechs kräftige Kapitäne und ein schlanker Pokal: Der Italiener Sergio Parisse, der Ire Rory Best, der Schotte Greig Laidlaw, der Engländer Dylan Hartley, der Franzose Guilhem Guirado und der Waliser Alun Wyn Jones (von links) schauen sehr entschlossen drein.

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England-Boss Eddie Jones ist voll des Lobes über die Entwicklung seiner Spieler. "Sie haben sich wirklich verändert, sind robuster und viel eigenverantwortlicher", so der 56-jährige Australier. Seinen eigenen Verdienst an dem mit weißer Weste absolvierten Jahr 2016 taxierte er mit bescheidenen zehn Prozent.

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Wien/London – Seit längerem, genau seit 1883, spielen die besten Rugbynationen Europas jährlich ihren Chef aus. Zuerst war man zu viert (Irland, Wales, Schottland und England – die sogenannten Home Nations), dann wurde zunächst um Frankreich (1910) und schließlich auch Italien (2000) erweitert. Außer der Zahl der Teilnehmer hat sich beim ältesten Rugby-Union-Turnier der Welt allerdings quasi seit Jahrhunderten nichts wirklich verändert. Man nennt das Tradition, und sie kommt auch noch gut an: 2016 kamen im Schnitt 68.968 Zuschauer in die Stadien.

In der am 4. Februar anhebenden 123. Ausgabe jedoch wird alles anders. Die Veranstalter haben die globalen Zeichen der Zeit erkannt und ein Bonuspunktesystem verordnet. Hintergedanke dieses Reformschritts ist es, einen Anreiz zu offensiverem Spiel zu setzen. Denn was die Anzahl der Tries betrifft, hinken die Six Nations ihrem großen Gegenüber, dem Rugby Championship der Sterne des Südens (Neuseeland, Südafrika, Australien, Argentinien), deutlich hinterher.

Zahlenspiele

Im Detail: Dem Sieger eines Matches werden nun vier Punkte (statt bisher zwei) gutgeschrieben. Diese Ausbeute kann durch einen Score von mindestens vier Versuchen auf fünf Zähler aufgestockt werden. Und auch der Verlierer geht künftig nicht mehr leer aus: Vier oder mehr Tries oder eine Niederlage mit weniger als sieben Punkten Differenz ergibt einen Punkt, vier Tries und eine Niederlage mit weniger als sieben Punkten Differenz deren zwei. Ein Remis wirft zwei Zähler ab, auch hier fetten vier oder mehr Versuche das Konto um einen Zusatzpunkt auf. Und schließlich werden, um der peinlichen Eventualität vorzubeugen, dass eine Mannschaft alle ihre Spiele, nicht aber das Turnier gewinnt, für einen Fünffachsieger drei Extrazähler ausgelobt.

Nicht nur, dass alles ein bisschen komplizierter wird, auch die Komplexität der Angelegenheit steigt analog zu den zusätzlichen taktischen Optionen, die die Neuerung erlaubt. Gedankenspiele, die durchaus ihren Reiz entfalten könnten.

Doch damit nicht genug. Eine weitere Unwägbarkeit machen die Nations 2017 interessant. Vor wenigen Wochen etablierte der Weltverband World Rugby verschärfte Tackling-Regeln, genauer: zwei neue Kategorien strafwürdigen Zweikampfverhaltens. In beiden Fällen geht es darum, den Kopf- und Nackenbereich der Spieler zu schützen. Hintergrund sind hier die Gefahren und Folgeschäden von Gehirnerschütterungen, die auch im Rugby immer häufiger auftreten. Abzuwarten bleibt nun, wie die Referees die Normen interpretieren werden. Etablierte Judikatur fehlt ja weitestgehend.

Kraft-Intelligenz-Balance

Ähnlich unvorhersehbar sind die Auswirkungen auf den Spielverlauf. Diese könnten sich einerseits durch eine drastische Zunahme an Strafkicks und Ausschlüssen, andererseits aber auch durch adaptiertes Defensivverhalten manifestieren. Letzteres könnte die vielleicht gar nicht einmal unintendierte Konsequenz eines noch weiter gesteigerten Temporeichtums zur Folge haben. Dies würde die Beobachtung weiter untermauern, dass sich der Rugbysport seiner Klischees immer rascher und immer gründlicher entledigt. Dicke Kerle, die sich auf Gatschäckern über einem Eierlaberl zu wüsten Massen zusammenballen – das spielt es nicht mehr.

Alle Klassemannschaften orientieren sich mittlerweile an jenem flüssigen Kombinationsspiel, das typisch für die absolute Bezugsgröße im Weltrugby ist: Neuseeland. Statt Kontakt wird der Raum gesucht, das erfordert raffiniertere Lösungen, als darauf zu hoffen, den Gegner im Zweifelsfall schon über den Haufen rennen zu können. Intelligenz und vielleicht auch die Gabe der Intuition prägen den Rugbyspieler der Moderne. Klassische Tugenden (Fitness, Härte, Mut) werden zwar keineswegs obsolet, reichen jedoch lange nicht mehr.

Zwischen kompaktem Kollektivismus und individueller Leichtigkeit die Balance zu finden ist die Kunst, die manchen besser gelingt als anderen. Eher schwerer tut sich Rekord-Champion Wales (26 ungeteilte, zwölf geteilte Siege), in dessen Lager ein offenerer Stil zwar angestrebt wird, es mit der Umsetzung aber offensichtlich noch hapert.

Ihr Lieblingsfeind: Die BBC machte sich für einen Clip den Wunsch aller anderen Mitwirkenden in diesem Turnier der Derbies zunutze, England verlieren zu sehen.
Wales2Win

Englands Lauf

Und last, but not least ist noch etwas anders als in den vergangenen Jahren. Zur Abwechslung ist die Frage nach einem Favoriten heuer recht eindeutig zu beantworten: England ist das Modewort. Der Titelverteidiger legte unter der Ägide von Headcoach Eddie Jones ein bemerkenswertes Jahr hin. Der Australier hat in seinen ersten 14 Monaten im Amt die Erwartungen übererfüllt, 13 Siege in 13 Partien sind keine ganz schlechte Bilanz. Wie stark kontrastiert dieses Bild doch mit jenem vom Herbst 2015, als das stolze Albion nach desaströs absolvierter Heim-WM am Boden lag. Dabei werkt Jones weitgehend mit demselben Spielerpool wie sein unglücklicher Vorgänger Stuart Lancaster.

Auch er ist ein Verfechter und Förderer des intelligenten, selbstinitiativen Mitarbeiters. Entscheidungen autonom und flexibel treffen, Matchpläne im Fall des Falles auch einmal über Bord schmeißen, anstatt auf die Halbzeitpredigt des Coaches zu warten: Das, also quasi das zunehmende Überflüssigmachen seiner selbst, ist, wohin der 56-Jährige seine XV entwickeln möchte.

Mittlerweile scheint selbst Jones' eigentliches Bestreben, die Übernahme der Weltherrschaft 2019, im Bereich des Realisierbaren. Doch eines nach dem anderen. Erst einmal warten Europas Felder. Neuseelandbesieger Irland dürfte hier der härteste Konkurrent um die Krone bei den Nations werden. (Michael Robausch, 1.2. 2017)

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