Man-Booker-Preis-Trägerin Margaret Atwood entwirft als bewährte Anwältin der Frauen subtile Racheszenarien. Gerne benützt sie dafür einen abgefeimten Märchenton.


Foto: Aaron Vincent Elkaim / APA

Margaret Atwood
Die steinerne Matratze

Erzählungen
Aus dem Englischen von Monika Baark
Berlin-Verlag 2016
306 Seiten, 20,60 Euro

cover: berlin-verlag

Wien – Ihr hohes Lebensalter ist nichts, womit sich die verwitwete Fantasy-Autorin Constance schmücken würde. Ein Eissturm fegt über Toronto hinweg. Die kalte Pracht verwandelt Constance' überschaubare Welt in lauter Diamanten – "Äste, Dächer, Stromleitungen, alles glitzert und funkelt". Constance hat vergessen, Salz einzukaufen. Und es ist ausgerechnet ihr toter Ehemann, der ihr das Versäumnis ins Ohr raunt.

Die Heldin in Margaret Atwoods neuem Erzählband Die steinerne Matratze weiß sich zu helfen. Sie streut Ofenasche auf die gefrorene Straße. Die Stiegen vor ihrem Eigenheim werden mit Katzenstreu bedeckt. Der Gang zum Eckladen in der Nachbarschaft wird zur Überlebensfrage: eine Expedition unter der Androhung des Todes.

Alle Heldinnen in Atwoods virtuos komponiertem Buch wissen das Leben zu überwiegenden Teilen hinter sich. Kein Grund, um Trübsal zu blasen. Constance zum Beispiel hat sich vor langer Zeit ein fiktives Refugium erschaffen. "Alphinland" heißt ihr Traumland. In ihm hängen eiförmige Lampen über versonnen grasenden Einhörnern. Bösewichte heißen hier "Milzreth Inflagranti", sie gebieten über Kobolde und Feuerferkel. Die infantile Heftchenliteratur, die Constance sich aus den Fingern saugt, ist künstlerisch nicht satisfaktionsfähig, wenngleich ein Bombenerfolg. Und doch ist mit der Flucht aus der Wirklichkeit eine subtile Rache verbunden.

Abserviert

Gavin, der treulose Lyrikerfreund ihrer Jugendtage, hatte Constance einst abserviert. Jetzt liegt er in "Alphinland" in einem Fass begraben – bei lebendigem Leibe; wenngleich sein gefesselter Körper nur aus Buchstaben besteht. Tod durch Stillstellung: Tückischer und zugleich hintersinniger lässt sich Vergeltung kaum inszenieren. Noch einmal wird die Macht der Fiktion als Täuschungsmittel beschrieben, als stiller Triumph über die patriarchale Norm.

Und so tritt Atwood, die große alte Dame der angelsächsischen Literatur, noch einmal selbstbewusst in die Fußstapfen ihrer Vorgängerinnen wie Virginia Woolf. Das Recht auf das "Zimmer für sich allein" wird frisch proklamiert. Nur dass die Protagonistinnen, der Jugend entwachsen, eben im Wartezimmer des Todes Platz nehmen müssen.

Diesen Umstand kennzeichnet nichts Betrübliches. Die neun Erzählungen von Die steinerne Matratze, von Monika Baark in ein famoses Deutsch übertragen, sind von satanischer Heiterkeit. Gavin, der von Constance gefangen gesetzte eitle Dichtergeck, kehrt in einer Folgegeschichte (Wiedergänger) zurück. Seine körperliche Hinfälligkeit kompensiert er mit Zynismus. Den Auftritt einer attraktiven Studentin missdeutet er als Hommage ans eigene Werk. Durch dieses spuken Frauen mit schönen Gesäßen. Auch Shakespeares Verrätselungskunst ist dem Modernisten Gavin nicht fremd.

Bestürzter Greis

Umso bestürzter reagiert der Greis, als ihm klar wird, dass das Interesse der Studiosa nicht ihm, sondern eben Constance und deren Fantasy-Kitsch gilt. Echowirkungen wie die beschriebene sind im ganzen Buch zu bestaunen; Menschen, am Rande des Verlöschens gezeichnet, kümmern sich noch rasch um den Nachhall ihrer Gedanken, Worte und Werke. Dass den Männern dabei meist übel mitgespielt wird – wer wollte es Constance und Co verdenken?

Und so trifft in der Titelerzählung die attraktive, reife Verna auf einer Arktisfahrt für Junggebliebene ausgerechnet auf Bob, ihren Vergewaltiger aus alten Highschool-Tagen: "unter dem schütteren Haar und den möglichen Zahnimplantaten immer noch derselbe". Er erkennt sein Opfer nicht, meint aber, sich mit ihr einen Urlaubsflirt leisten zu dürfen. Verna denkt, genug erlitten zu haben, um sich wegen seiner Ermordung kein Gewissen machen zu müssen. Gute Voraussetzungen für das "perfekte Verbrechen".

Die heute 77-jährige Atwood, die schreibt und schreibt, fügt ihrem beeindruckenden Stilinventar immer neue Elemente hinzu. Es ist wahrlich keine Pracht, alt zu werden. Aber dem Tod lässt sich getrost das eine oder andere Erzählschnippchen schlagen. (Ronald Pohl, 19.1.2017)