"Die letzten Zeugen" im Burgtheater: Suzanne-Lucienne Rabinovici, Ari Rath, Vilma Neuwirth, Rudolf Gelbard, Lucia Heilman, Marko Feingold.

foto: APA/BURGTHEATER/reinhard maximilian werner

Die allergrößte und allerwichtigste Tat Matthias Hartmanns als Burgtheaterdirektor war wohl, dass er Doron Rabinovici für die Entwicklung eines Zeitzeugenprojekts angefragt und ihn bei der Produktion von "Die letzten Zeugen" unterstützt hatte.

Das Ergebnis war im besten Sinne ein Beispiel dafür, wozu ein Haus wie das Burgtheater Wien im Stande wäre. Nämlich wenn es sich nicht nur als Bühnenort auffassen würde, in dem künstlerische Ausdrucksformen für ein den Künsten zugeneigtes Publikum entwickelt, aufgeführt und von diesen konsumiert werden. Sondern seine Bühne, seinen Zuschauerraum und auch sein Foyer dazu nützen würde, alle Fragen, die uns betreffen, mit aller Offenheit – und auch Brutalität – zu verhandeln.

Innere und äußere Konflikte

Wenn es das Ziel hätte, den Zuschauer durch das Gezeigte zu einem anderen Menschen zu machen. Wenn aus inneren und äußeren Konflikten der Künstler und Theaterarbeiter zunächst ebensolche der Zuschauer würden – und im besten Falle danach auch ein gesellschaftlicher Konflikt. Egal ob es um die Shoah geht oder um Flucht, egal ob um Geld oder die Liebe.

Gerade das Gegenteil davon waren "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek. Nicht nur die Inszenierung selbst, diese widerspruchslose, überästhetisierte und, wie ich finde, feige Übersetzung des Textes auf die große Bühne. Sondern besonders die unwürdige Peinlichkeit, dass nach dem Stück Menschen mit Spendenbüchsen beim Ausgang herumstanden und um milde Gaben bettelten. Als ob das das Einzige wäre, was die Burgtheaterzuschauer zu tun im Stande wären. Ein Paar Euro als Abbitte in die Büchse, und alles ist gut.

Aufforderung zum Handeln

Hartmann und Rabinovici hatten das bei "Die letzten Zeugen" anders gemacht. Sie ließen die Zuschauer nicht mit ihrer komfortablen Betroffenheit heimgehen. Und – vor allem – sie ließen die Zeitzeugen nicht als Bühnenfiguren zurück, denen Schreckliches widerfahren war, das von Schauspielern auf der Bühne wiedergegeben worden wäre. Sondern sie ließen sie im Foyer Platz nehmen, weitersprechen und Mensch werden. Menschen, die mit all ihren Eigentümlichkeiten und Widersprüchlichkeiten mehr wollen als Betroffenheit. Menschen, die nicht nur wollen, dass man sich an sie und die Schrecken, die ihnen angetan wurden, erinnert, sondern dass das, was sie gerade ihrem Publikum angeboten haben, von diesem als eine Aufforderung zu handeln verstanden wird.

Auf die Frage, worin dieses Handeln denn bestehen soll, hätten Heilman, Neuwirth, Rabinovici, Feingold, Gelbard, Rath und die nicht mehr dagewesene Stojka wohl alle unterschiedliche Antworten gehabt. Aber sie verkörperten den feinen Unterschied zwischen "Niemals Vergessen" und "Nie wieder". Indem sie aussprachen, dass sie aus den Schrecken nicht nur Traumata mitgenommen hatten, sondern ihre Erinnerungen an die Vergangenheit Handlungsanweisungen für die Gegenwart und die Zukunft für sie geworden waren. Und auch genau das für das Publikum werden sollten.

Was tun die Kulturinstitutionen dieser Stadt heute?

Ich musste die vergangenen Tage oft daran denken, was eigentlich die großen Kulturinstitutionen dieser Stadt tun, während die Welt da draußen an allen Ecken und Enden brennt. Warum sie viel weniger tun, als wozu sie eben imstande wären. Obwohl sie mit Kunst das beste Produkt des menschlichen Schaffens zur Verfügung haben, die dringendsten Fragestellungen des Menschlichen und der Menschheit zu verhandeln. Und eines, das wie kaum ein anderes in der Lage ist – und in Zeiten wie diesen wäre –, von so vielen unterschiedlichen Menschen auf ebenso unterschiedliche, aber gleichzeitig so unmittelbare Weise erfassbar zu sein. Egal ob es eben um Geschichte, Gegenwart, Geld oder Liebe handelt.

Jetzt ist auch ein trauriger Anlass da, um die Frage öffentlich zu stellen. Nach Ceija Stojka und Vilma Neuwirth ist mit Ari Rath der dritte der letzten Zeugen gestorben. Möge er in Frieden ruhen. (Can Gülcü, 19.1.2017)