Sie wollen den Journalismus zum Schweigen bringen, und es gelingt ihnen weitgehend auch", sagt Yonca Verdioglu. Sie ist Projektleiterin einer internationalen Forschungsstiftung. Jene Medien, die bis jetzt noch auf dem Markt sind, seien offenbar Teil eines wohlausgeklügelten PR-Systems im Dienste der Regierung und deren inzwischen willfähriger Justiz. Die Methode ist derart simpel, dass sie kaum noch auffällt.

In der Türkei funktioniere das System so, sagt Verdioglu: Zunächst berichtet ein regierungsnahes Medium über einen angeblich inakzeptablen Kollegen. Danach greift die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe auf, formuliert sie zu einer Anklage und veranlasst die Inhaftierung des beschuldigten, "schlechten" Medienmenschen. Kaum ist dies geschehen, gehen die "guten" Medienmenschen dazu über, in diffamierenden Artikeln öffentlich Rufmord an den bisherigen Kollegen zu begehen.

Yonca Verdioglu ist verheiratet mit dem bekannten Publizisten Ahmet Sik. Seit 27 Jahren arbeitet dieser als vorbildlicher, investigativer Journalist. Weit über die Grenzen der Türkei hinaus bekannt ist er auch als Autor seines vielbeachteten Buches über den Ergenekon-Prozess. In diesem Prozess wurden in einer ersten Säuberungswelle kritische Gegner der AKP und deren Parteivorsitzenden, Regierungschef Recep Tayyip Erdogans, als Terroristen diffamiert und verurteilt. Nicht wenige Journalisten tauchten damals im Ausland unter. Viele hatten auf Transparenz gehofft. Drei Jahre dauerten die Prozesse, die aus Sicht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Reihe von Missachtungen rechtsstaatlicher Prinzipien darstellten. Manche, so schrieb das Blatt, scheuten damals nicht einmal den Vergleich mit stalinistischen Schauprozessen.

Auch über die Gülen-Sekte hatte Ahmet Sik recherchiert und ein Buch geschrieben. Titel: Die Armee des Imam. Offenbar war der Inhalt auch dieses bis dahin noch nicht veröffentlichten Buches derart brisant, dass Sik 2011 per Gerichtsentscheid 13 Monate in Haft verbringen musste. 125 Journalisten und Autoren beschlossen darauf, das Buch mit ihren Unterschriften unter dem Namen "0001 kitap" zu veröffentlichen. Kitap ist das türkische Wort für Buch.

Am frühen Morgen des 30. Dezember 2016 standen wieder Sicherheitsbeamte vor der Wohnungstür des Journalisten, um ihn zu verhaften. Anlass waren diesmal regierungskritische Tweets und Artikel, die Ahmet Sik verfasst hatte. Die regierungsnahe Zeitung Sabah ("Der Morgen") hatte darüber berichtet. Die Anklage hatte sich auch auf den Sabah-Artikel gestützt. Sik wird terroristische Propaganda im Sinne der Gülen-Bewegung und der radikalen kurdischen Partei PKK unterstellt. Die Vorwürfe sind allein angesichts seiner Vita und seiner publizistischen Arbeiten absurd.

Zunächst sitzt er im Istanbuler Gefängnis Metris ein – in einer Isolationszelle und zwei Tage lang ohne Trinkwasser. Jeglicher Kontakt zu Anwälten ist untersagt. Dann wird Ahmet Sik in das Gefängnis Silivri, 50 Kilometer außerhalb von Istanbul, transferiert. Hier teilt er sich inzwischen mit zwei anderen Männern eine Zelle. Einer der beiden ist Inan Kizilkaya, der langjährige Chefredakteur der kurdischen Minderheitenzeitung Özgür Gündem. Ihm wird wegen dieser Tätigkeit terroristische Propaganda vorgeworfen. Seit Mitte August ist Kizilkaya in Silivri und wird da wohl auch noch lange bleiben müssen. Selbst Untersuchungshaft kann in der Türkei Jahre dauern.

Psychisch gebrochen

Bereits bei der Gerichtsverhandlung Anfang November 2016 hat Inan Kizilkaya wie ein gebrochener Mann gewirkt. Abgemagert, mit grauem Gesicht, wird er wie ein Schwerverbrecher von Wachebeamten in den Gerichtssaal bugsiert. Er will zunächst über Missstände im Gefängnis berichten – das sei nicht Gegenstand der Verhandlung, unterbricht der Richter rüde. Er habe keine Verteidigungsschrift vorbereiten können, da ihm Papier und Bleistift versagt worden seien, erklärt der angeklagte Journalist. Der Prozess wird vertagt. Inan Kizilkaya will nicht mehr vorgeladen werden. Er ist der Erniedrigungen müde.

Vertagt wird am darauffolgenden Tag auch der Prozess gegen Erol Önderoglu, seit 1996 Korrespondent von Reporter ohne Grenzen und langjähriger OSZE-Mitarbeiter. Erol hat gemeinsam mit zwei anderen Personen nach der Verhaftung des Chefredakteurs ehrenamtlich und im Rotationsprinzip die Leitung von Özgür Gündem übernommen. Auch er wird deshalb im Frühherbst 2016 wegen terroristischer Propaganda verhaftet, nach knapp zehn Tagen jedoch auf freien Fuß gesetzt. Als neuer Verhandlungstermin wird der 11. Jänner 2017 genannt. Für diesen Tag ist auch ein Verhandlungstermin für Can Dündar, den nach Berlin geflohenen Chefredakteur der unabhängigen Zeitung Cumhuriyet, anberaumt.

Bereits Anfang November 2016 ist ein internationales Team zur Prozessbeobachtung in die Türkei gekommen. So auch am 11. Jänner. Seitens der NGO Reporter ohne Grenzen kamen wir auch diesmal aus Paris, Berlin, Wien. Zwei Tage zuvor hatte ein Schneesturm den Flugverkehr lahmgelegt. Auf dem Platz oberhalb des Strafgerichtshofes ist am nächsten Morgen der Schnee bereits zu grauem Eis festgetreten. Auf der Schattenseite des Platzes, steht ein ausrangierter Bürosessel mit einer uralten, offenen Olympia-Reiseschreibmaschine auf der Sitzfläche. Ein unscheinbares Symbolbild anlässlich der Medienprozesse. Wer will, sieht es – genauso gut kann man es aber auch übersehen. "Die Menschen haben Angst vor Verhaftungen und verstummen deshalb", sagt Yonca Verdioglu. Ihr Mann, Ahmet Sik, sei kein Held. Er sage und schreibe nur die Wahrheit, und diese sei eben manchmal für Regierungen unangenehm. So auch heute.

Verdioglu und Siks Anwälte dürfen ihn jeweils einmal pro Woche für 60 Minuten besuchen. Dann sitzt das Paar in einem durch eine Glaswand getrennten Raum und spricht per Sprechanlage miteinander – wie man das aus US-Kriminalfilmen kennt. Alle zwei Monate darf das Ehepaar eine Stunde lang gemeinsam an einem Tisch sitzen und reden.

Wann Ahmet Sik seine Gerichtsverhandlung haben wird, ist bisher völlig ungewiss.

Zynisches Kalkül

Müßig zu sagen, dass auch die Verhandlungen vom 11. Jänner vertagt wurden. Jene gegen Erol Önderoglu auf den 21. März, die gegen Can Dündar auf den 1. März. Für die Betroffenen ist dies eine besondere Form psychischer Belastung. Für die internationalen Prozessbeobachter soll sich vielleicht die Frage stellen, ob es sich wirklich lohnt, für die kurze Mitteilung "Der Prozess wird vertagt" die Reise nach Istanbul nochmals anzutreten. Gut möglich, dass hier die türkische Medienjustiz auch auf das Prinzip der Spesensparsamkeit, der Bequemlichkeit und damit des langsamen Vergessens seitens der internationalen Öffentlichkeit setzt.

Fast möchte man meinen, die türkischen Medienwächter haben Noam Chomskys Strategien der Medienmanipulation gelesen, insbesondere die Punkte mit den Titeln: "Benutze Emotionen statt Nachdenklichkeit" oder "Ermutige das Publikum, mit Kleingeistigkeit zufrieden zu sein". Diese Strategien hatte Chomsky übrigens bereits im vergangenen Jahrhundert niedergeschrieben, also lange bevor das neue Schlagwort "postfaktische Realität" geprägt wurde. Bleibt zu hoffen, dass das türkische Beispiel in der heutigen Zeit nicht auch bei anderen demokratisch gewählten Regierungen Schule macht.(Rubina Möhring, 19.1.2017)