Was weiß man schon über Teheran? Über den Iran? Nach der Lektüre des fulminanten Reportagebandes Stadt der Lügen von Ramita Navai viel. Navai floh 1979, da war sie acht Jahre alt, mit ihren Eltern aus Teheran nach Großbritannien. Dort wurde sie Journalistin, war von 2003 bis 2006 Iran-Korrespondentin der Londoner Times und hat seither Reportagen aus und über Syrien, Afghanistan, Simbabwe, Nigeria, Mexiko publiziert.

Sie, die fließend Farsi spricht, nimmt als Achse ihres Psychogramms der Stadt und ihrer Menschen eine der Verkehrsschlagadern Teherans, den Valiasr-Boulevard. Dieser zieht sich, von Platanen gesäumt, quer durch die Kapitale, vom reichen Norden bis ans arme, tiefreligiöse, harte Südende.

Sie erzählt vom doppelzüngig-schizophrenen Leben im angeblichen Gottesstaat. Denn unter Hijab, außerhalb der Moscheen, dem Zugriff der Mullahs sich entziehend, gibt es ein überbordendes, gesellschaftskritisches Leben im Iran, zwischen digitalen Medien, Sex, Luxus, allezeit jedoch im Schlagschatten von Repression und Orthodoxie. Navai blättert in neun Kapiteln über neun Menschen ein faszinierendes Spektrum auf. Da gibt es ein junges Mädchen aus armer Familie, die auf dem Straßenstrich landet, sich zur Edelnutte hochschläft, Amateurpornos dreht, die sich auf illegal vertriebenen DVDs höchst erfolgreich verkaufen, dann verhaftet und hingerichtet wird.

Der Unterweltcapo und der Ex-Halbweltler

Da gibt es einen Jungen, der homosexuell ist, dies unterdrückt, einer Basidsch-Einheit beitritt, einer die Religionsvorschriften mit Knüppel und leichten Motorrädern kontrollierenden Jugendtruppe, missbraucht wird, mit Basidschis und Familie bricht und sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht. Da gibt es einen Unterweltcapo, der Schmuggelgeschäfte lenkt. Und einen alten Ex-Halbweltler, der einst angesehen war und nach der Revolution 1979 alles verlor, nur die Liebe seiner Frau nicht. In Armut abgesunken, versucht er, eine illegale Glücksspielhalle zu betreiben. Doch als seine Frau stirbt, wird er ihr zu Ehren wohlanständig.

Da ist der Sohn, dessen Eltern 1988 als Dissidenten hingerichtet wurden. Nun verfolgt ihn der damalige Richter, den Reue ebenso quält wie die Enttäuschung über die Islamische Revolution, und bettelt um Vergebung. Da ist der Sohn einer Exiliranerin, der in den USA sich einer sozialistischen Oppositionsgruppe anschließt. Diese schickt ihn als Attentäter nach Teheran. Der Anschlag schlägt fehl; nach mehreren Jahren Haft wird er entlassen, vollkommen desillusioniert von der dogmatisch-irrealen Terrorgruppe. Da ist eine Frau, die sich scheiden lässt. Eine andere, reiche Witwe, ist zunehmend entsetzter über die Einschränkungen ihrer Freiheit, emigriert nach London und kehrt wieder zurück.

Ein großartiges und großartig geschriebenes Porträt Teherans. (Alexander Kluy, 2.2.2017)