Eine Installation aus der Serie "trash" von Mark Jenkins in London. Die Passanten werden unfreiwillig Bestandteil seiner Arbeiten, die Figuren sind aus Klebeband.

Foto: Mark Jenkins

Das gab Ärger. Vor der letzten Bundestagswahl im Jahr 2013 erklärte der Philosoph Richard David Precht, dass er gar nicht wählen gehe, weil die Wahl ohnehin "belanglos" sei. Sein Philosophenkollege Peter Sloterdijk verweigerte sich auch, wusste nicht mal, wann Wahltag ist. Schauspieler Moritz Bleibtreu bekannte, überhaupt noch nie in einer Wahlkabine gewesen zu sein.

Sie wurden scharf kritisiert, doch Zustimmung gab es auch. Nicht wählen zu gehen wird schließlich immer salonfähiger. Waren das noch Zeiten, als Bruno Kreisky (SP) 1970 Josef Klaus (VP) als Bundeskanzler ablöste. Bei der Nationalratswahl betrug die Wahlbeteiligung 90,95 Prozent. In Deutschland sah es zwei Jahre später, als Kanzler Willy Brandt (SPD) sich behaupten konnte, nicht anders aus, die Chronisten vermerkten eine Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent.

Es sind Werte, von denen Politiker heute nur träumen können. Bei der Nationalratswahl 2013 machten nur noch 74,9 Prozent der Wahlberechtigten ihr Kreuz auf dem Wahlschein. Bei der Bundestagswahl im selben Jahr waren es nur 71,5 Prozent. Und man kennt in Deutschland noch viel mehr Schwund.

Wahllos von Ost bis West

Im ostdeutschen Sachsen-Anhalt zog es 2006 nur 44,4 Prozent zu den Urnen, selbst in Bayern, wo doch so vieles so vorbildlich ist, wollten bei der Landtagswahl 2003 lediglich 57,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Die Menschen interessieren sich halt immer weniger für Politik, heißt es oft bedauernd zur Erklärung – gefolgt natürlich vom Versprechen, dass man sich jetzt echt darum kümmern müsse.

"Es stimmt aber nicht, dass sich Nichtwähler durch die Bank nicht für Politik interessieren", sagt Oskar Niedermayer, Politologe an der Freien Universität Berlin zum STANDARD. Er forscht seit Jahren auf diesem Gebiet und hat jene, die nicht wählen gehen, in vier Gruppen eingeteilt. Die unechten Nichtwähler betreten am Wahltag kein Wahllokal, weil sie gar keine Wahlbenachrichtigung erhalten haben oder krank sind.

Dann gibt es die politikfernen Nichtwähler, die sich tatsächlich nicht die Bohne für Politik interessieren. Am größten sind die letzten beiden Gruppen: die unzufriedenen Nichtwähler und die konjunkturellen Nichtwähler. Letztere sind im Wortsinn wählerisch. Sie beteiligen sich etwa an der Kommunalwahl in ihrer Stadt, nicht aber bei der Landtagswahl.

Unzufrieden mit dem Angebot

Im Gegensatz zu ihnen verweigern sich die Unzufriedenen komplett und gehen gar nicht wählen. Aber eben nicht, weil sie sich nicht für Politik interessieren, sondern weil sie mit selbiger seit langem unzufrieden sind.

Der Kölner Hotelier Werner Peters ist so einer. Früher war er einmal CDU-Mitglied, jetzt bekennt er jedoch freimütig: "Ich habe seit 30 Jahren nicht mehr gewählt." Das Zitat des US-Präsidenten Abraham Lincoln (1809-1865) "Wahlen sind Sache des Volkes, die Entscheidung liegt in seiner Hand" kann ihn ebenso wenig überzeugen wie der oft zitierte Spruch, wonach das Wahlrecht das vornehmste Bürgerrecht sei – hart erkämpft und daher gefälligst nicht zu vernachlässigen.

Peters hat 1998 sogar die "Partei der Nichtwähler" gegründet. "Ich weiß: Nichtwähler ins Parlament zu bringen, das ist total paradox", sagt er. Aber darum gehe es auch nicht wirklich. Vielmehr wollte Peters aufzeigen, dass Nichtwähler mit dem System unzufrieden und wütend über Politiker sind. Darüber beispielsweise, dass in Hinterzimmern gemauschelt wird. Dass die CSU ihre Ausländermaut in der Koalition durchsetzen konnte, obwohl weder CDU noch SPD sie wollte.

Pool der Nichtwähler

Peters Rezepte gegen die Politikverdrossenheit lauten: viel mehr Volksabstimmungen, Begrenzung von Mandaten und Regierungsämtern auf zwei Legislaturperioden, Aufhebung des Fraktionszwanges (Klubzwanges).

Um zu zeigen, "dass auch Nichtwähler etwas zu sagen haben", schlägt er eine radikale Wahlreform vor. Die Hälfte der Bundestagsmandate soll per Los ermittelt werden, und zwar aus einem Pool von Nichtwählern, die sich bereit erklären, wenn das Los auf sie fällt, ins Parlament zu gehen. Politik würde dann anders aussehen, viel "bürgernäher", ist Peters überzeugt.

Auch Politologe Niedermayer ist der Ansicht, dass man neue Wege gehen müsse, um die Wütenden und Frustrierten zurückzugewinnen. Er sieht auch bei den etablierten Parteien wachsende Nervosität. Früher blieb, wer mit dem Angebot nicht einverstanden war, am Wahltag zu Hause. Heute wird zunehmend AfD gewählt. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland bekommt die meisten Stimmen aus dem Nichtwählerlager.

Im Jahr 2000 habe man den FDP-Politiker Guido Westerwelle noch ausgelacht, als er sich in den "Big Brother"-Container setzte. Aber, so Niedermayer: "Es gibt Menschen, die man mit normalen politischen Formaten längst nicht mehr erreicht, vielleicht aber in ihren Welten abholen kann." (Birgit Baumann aus Berlin, 21.1.2017)