Großer Ständer im Museumsshop im Freud-Museum in Wien: Im Wiener Sigmund-Freud-Museum wird auch Peter-André Alt seine neue Freud-Biografie "Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne", erschienen bei C. H. Beck Ende 2016, vorstellen – und zwar am nächsten Mittwoch, dem 25. Jänner 2017, Berggasse 19, 1090 Wien; Beginn der Veranstaltung: 20 Uhr.

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Peter-André Alt, "Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biographie". € 34,95 / 1036 Seiten. C. H. Beck, 2016

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Standard: Was hat Sie als Literaturhistoriker bewogen, eine Freud-Biografie zu verfassen?

Alt: Am Anfang jeder Geschichte eines Heroen entstehen Biografien, die Extreme ausleuchten. Da kommt erst einmal die hagiografische Darstellung. Für Freud lieferte die Ernest Jones. Hernach treten die großen Kritiker auf, die den Heroen vom Sockel stoßen. Je länger jedoch die biografische Bewältigung andauert, desto geringer werden die Zeigerausschläge. Dann geht es um Nuancen, und da liegt mein Ansatz. Mein Blick richtet sich auf den wissenschaftlichen Denker und seine Bedeutung für die Wissenschaft. Mich interessieren seine intellektuellen Prägungen. Da waren die Einflüsse von Charles Darwin und der Naturforschung, von Hermann von Helmholtz und der modernen Physiologie.

Standard: Sie rücken die Psychoanalyse aber in die Nähe der Kunst und bezeichnen Freuds Wissenschaft als ästhetisches Gebilde ...

Alt: Diese These stammt von Eugen Bleuler, einem Schweizer Psychiater und Konkurrenten Freuds. Er meinte, Freuds Denken sei wie ein Kunstwerk und erhebe damit den Anspruch, als Ganzes wahrgenommen zu werden. Auch lasse sich ein Kunstwerk nicht "zusammenschlagen". Deswegen habe Freud immer einen Hang zum Dogmatismus. Ich habe diese Analogie zur Kunst insofern aufgegriffen, als Freud sein wissenschaftliches System aus der Selbstanalyse heraus entwickelte. Darin besteht der Unterschied zu allen anderen Formen der Wissenschaft, die von einer Objektbeziehung ausgehen. Die Kunst setzt auf die Ichhaftigkeit. Kritiker werfen Freud denn auch vor, er hole die Subjektivität wieder hervor.

Standard: Der Philosoph Michel Onfray stellt die Psychoanalyse als autobiografisches Abenteuer dar ...

Alt: In Frankreich gab es eine große Polemik gegen Freud. Mir lag daran zu zeigen, mit welcher Offenheit Freud die Fehleinschätzungen von Heilungsprozessen oder die Fehldiagnosen transparent machte. Er redete über seinen Ehrgeiz und seine Ängste. In seinem großen Werk Die Traumdeutung beschreibt er seine Träume. Er legt sich wirklich auf den Seziertisch und offenbart den Lesern, was in ihm vorgeht. Auch später zeigte er eine große Bereitschaft, über Irrtümer zu berichten. Das muss man jenen Kritikern entgegenhalten, die Freud vorwerfen, er sei dogmatisch gewesen.

Standard: Sie messen Freuds Vorstellungen immer wieder an denen seiner Zeit. Inwieweit war er an seine Zeit gebunden?

Alt: Natürlich war er ein Kind seiner Zeit. Ein Teil der Traumsymbolik, die er analysierte, wie etwa die Phallussymbolik, gehörte der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts an. Auch vieles von dem, was Freuds Neurosenlehre bestimmt, sind Verdrängungsprozesse, die heute nicht mehr so ablaufen. Wir sind anders sozialisiert. Was Freuds Frauenbild betrifft, ist er konservativ. Die These von der Triebsteuerung der Frau, die Freud im Gegensatz zur Intellektprägung des Mannes konstatiert, lässt den Geist des 19. Jahrhunderts spüren. Aber Freud ist in der Lage zu lernen. Er ist bereit, Vorurteile infrage zu stellen.

Standard: Hat er sein Frauenbild revidiert?

Alt: Überblickt man sein Leben, erkennt man, dass er wohl in der Lage war, die geistige Leistung von Frauen anzuerkennen. In den ersten Jahren gehörten zum Mittwochskreis in der Berggasse nur Ärzte. Später kamen auch Frauen dazu. Wie die Protokolle belegen, war Freud einer von denen, die sich dafür einsetzten. Er holte nicht nur seine Tochter Anna in den Kreis, sondern auch Helene Deutsch, Karen Horney und Sabina Spielrein, ebenso Lou Andreas-Salomé und Marie Bonaparte. Außerdem führte er eine weit ausgreifende Korrespondenz mit wissenschaftlich arbeitenden Frauen.

Standard: Freud habe die Sexualität "aus dem Giftschrank der Wissenschaft" befreit, zitieren Sie Sándor Ferenczi. Sehen Sie darin Freuds kulturelle Leistung?

Alt: Ja, ohne Zweifel. Es ist nicht so, dass Freud die Sexualität entdeckte. Mutige Pioniere beschäftigten sich bereits im viktorianischen Zeitalter der Verbote mit ihr. Freud aber war der Erste, der die Tabuisierung völlig beiseiteräumte. Seine Leistung bestand darin, der Sexualität eine Bedeutung zu verleihen. Er zeigte, dass es nicht nur ein dunkles Triebleben gibt, das häufig verdrängt wird, sondern dass dieses Triebleben uns in unserem bewussten Leben konstituiert.

Standard: Erschreckend ist Ihr Bericht von Freuds Besuch in der Pariser Salpêtrière bei Jean-Martin Charcot. War das der Therapiestand Ende des 19. Jahrhunderts?

Alt: Das war sogar ein avancierter Stand. Denn die Patientinnen, es waren viele Frauen, wurden bei Charcot auch wissenschaftlich beobachtet. So war die Salpêtrière einerseits ambitioniert und aufgeklärt, indem sie wissenschaftliche Observationspraktiken einsetzte, andererseits aber waren die Patientinnen eingesperrt in ein Gefängnis des Irrsinns. Das Neue bei Freud war, dass er sich bemühte, die Krankheiten der Seele nicht nur zu verstehen, sondern auch zu therapieren.

Standard: Freud war auch beeindruckt von Arthur Schnitzlers Werken. Fügte er etwas zum System, das in der Literatur schon Thema war?

Alt: Die Literatur weiß vieles, was die Wissenschaft erst später in Erfahrung bringt. Das zeigt zum Beispiel das Thema Traum. Vor Freud war es die Literatur, die sich mit den Träumen beschäftigte. Sie förderte Erstaunliches zutage. Es gab ein Zugleich der psychologisch aufgeschlossenen Literatur sowie der Entwicklung der Psychoanalyse. Freud konstatierte das mit Neid und Überraschung. So sprach er Arthur Schnitzler seine Bewunderung aus, nachdem er im Burgtheater dessen Drama Paracelsus gesehen hatte. Er frage sich, woher Schnitzler diese geheime Kenntnis habe. Denn er müsse sich dieses Wissen durch mühselige Erforschung erwerben.

Standard: Wie betrachten Sie den Einfluss von Freuds Theorien auf die Philosophie?

Alt: Die moderne Philosophie besitzt weite Kenntnisse über das Triebleben des Menschen. Das gilt für Schopenhauer und für Nietzsche. Freud betonte immer, dass er sie erst spät rezipiert habe. Sie hätten seine Theorien nicht beeinflusst. Darüber wurde heftig gestritten. Später war es die Philosophie, die verschiedene Synthesen mit der Psychoanalyse herstellte. Theodor Adorno, Max Horkheimer, Ernst Bloch und Herbert Marcuse wurden alle von Freud beeinflusst. Sie versuchten, Freud in die Sozialphilosophie zu integrieren, allerdings mit einem Anspruch, der Freud unheimlich war. Die Psychoanalyse zu benützen, um eine neue Gesellschaft zu entwerfen, entsprach nicht seinen Vorstellungen.

Standard: "Der Arzt der Moderne" nennen Sie Ihre Biografie im Untertitel ...

Alt: Freud war von seinem Selbstverständnis her immer Mediziner. Die Psychoanalyse entstand aus dieser doppelten Zielsetzung, ein theoretisches System zur wissenschaftlichen Erklärung des seelischen Apparates zu sein und zu heilen. Der Heilbegriff spielte auch dann noch eine Rolle, als Freud sich im Alter stärker auf Fragen der Kultur und der Ethnologie konzentrierte. Freud ist Arzt, der versucht, die Krankheiten der Moderne, die Neurosen, zu heilen. Aber er ist ein moderner Arzt, der die Prägungen der Moderne in sein System aufgenommen hat.

Standard: Sie bezeichnen Freuds Lehre als typisch für das 20. Jahrhundert. Wie steht es um sie im 21. Jahrhundert?

Alt: Die Psychoanalyse wird weiterhin angewandt. Sie zeitigt therapeutisch gute Ergebnisse, weil sie eine seelische Tiefenstruktur erreicht. Umstritten war ihre Heilwirkung immer. Das hängt zusammen mit der Frage, was Heilung bedeutet. Zu Freuds größten Irrtümern gehörte, wie er selbst eingestand, die Erwartung, seine Patienten seien irgendwann geheilt. Er brauchte lange, bis er verstand, dass die Heilung kein Abstellen auf ein bestimmtes Resultat ist, sondern ein Prozess. Die Analyse ist deswegen eine unendliche.

Standard: Findet eine neue Annäherung an Freuds Theorien statt?

Alt: Die Psychoanalyse entwickelte sich wissenschaftlich weiter. Sie zeigte sich offen für andere Ansätze und setzte sich zum Beispiel mit der Hirnforschung auseinander. Vor einigen Jahren noch hieß es, die Psychoanalyse sei wissenschaftlich abgehängt. Von ihr komme keine Innovation mehr. Diese These stimmt nicht. Die Psychoanalyse lebt in Zyklen wie alle großen Theorien. Und gegenwärtig stellen wir wieder fest, dass sie Bedeutendes leisten kann. (Ruth Renée Reif, 21.1.2017)