Jeder Fehler wird von der Schachwelt mit Genuss analysiert: Magnus Carlsen.

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Und hier ist ein solcher Fehler: Der Weltmeister übersieht mit Weiß gegen Anish Giri die Mattidee nach 56.Tc8+

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Das Ehepaar Anish Giri und Sopiko Guramishvili. Er remisierte gegen Magnus Carlsen, sie verlor gegen Markus Ragger.

Wijk aan Zee – Schach kann so grausam sein. Selbst oder vielleicht insbesondere dann, wenn man Weltmeister ist: Dann werden die eigenen Missgeschicke am Brett nämlich von Schachfans auf der ganzen Welt beobachtet und kommentiert – und wer den Schaden hat, braucht für den Spott bekanntlich nicht zu sorgen.

So gesehen in Runde sieben des Masters-Turniers im niederländischen Wijk aan Zee, Magnus Carlsen spielt gegen Lokalmatador Anish Giri: Mit guten vierzig Minuten Bedenkzeitreserve auf der Uhr übersieht der Weltmeister ein mögliches Matt in drei Zügen, dem Giri nur noch unter Damenopfer entgehen könnte. Die sofortige Aufgabe des Niederländers wäre mit Sicherheit die Folge gewesen, Carlsen mit dem führenden Wesley So gleichgezogen.

Hättiwari

Statt die Zugfolge zu wählen, die jedem fortgeschrittenen Amateur sofort ins Auge springt, schlägt der Norweger einen anderen, komplizierteren Weg ein – nur um wenige Züge später in einem nicht mehr gewinnbaren Endspiel mit Turm und Läufer plus zwei Bauern gegen Giris nun auf dem Brett verbleibende Dame zu landen. Allem weltmeisterlichen Kneten zum Trotz ist das Remis nach 123 Zügen schließlich unterschriftsreif.

Und es ist ausgerechnet Giri selbst, der es sich im Interview nach der Partie nicht verkneifen kann, gegen den Unglücksraben Carlsen nachzutreten: "Das dürfte der peinlichste Moment in seiner Karriere sein." Freilich straft Schachgöttin Caissa Anish Giri am nächsten Tag für diese Chuzpe: Levon Aronian überspielt den jungen Mann mit leichter Hand und fügt ihm jene Niederlage zu, die ihm schon am Vortag gebührt hätte.

Sand aus Wijk

Ein schwacher Trost für Magnus Carlsen, in dessen Getriebe durch den unerklärlichen Aussetzer eine größere Portion Nordseesand geraten zu sein scheint. Gegen den unberechenbaren Nachwuchsstar Richard Rapport, der den guten schachlichen Eröffnungsgeschmack gerne durch selbstmörderisch wirkende Vorstöße seiner Flügelbauern beleidigt, versucht der Weltmeister es in Runde acht mit der Brechstange.

Rapport aber wählt an diesem Tag mit Weiß ein gemächliches Doppelfianchetto in der Tradition der Hypermodernen Schachschule und lässt den aufbrausenden Carlsen damit erfolgreich ins offene Messer laufen: Nach 33 Zügen ist der Weltmeister taktisch bankrott. Eins zu null für den erst 20-jährigen Ungarn, der Carlsen damit fünf Runden vor Schluss womöglich vorentscheidend auf die Bretter schickt.

Romantisches Schach

Denn Magnus Carlsens Rückstand auf den starken US-Amerikaner Wesley So beträgt nun schon einen vollen Punkt, das direkte Duell der beiden endete in Runde eins unentschieden. In Wijk aan Zee scheinen sich nach gutem Beginn somit die mentalen Probleme des Weltmeisters fortzusetzen, die ihm bereits vergangenen November beim WM-Match in New York City zu schaffen machten: Auf unerklärliche Aussetzer in gewonnener Stellung ließ Carlsen da wie dort frustrationsbedingt schachliches Harakiri folgen. Ob der Norweger auch in Wijk noch einmal die Wende schafft, bleibt abzuwarten.

Die positive Überraschung der Masters-Gruppe ist hingegen Qualifikant Baskaran Adhiban: Mit nur zwei Remis aus den ersten vier Runden muss der immer bestens gelaunte Inder zunächst einiges Lehrgeld zahlen. Dann ändert er seine Strategie. Von der Wiener Partie bis zum altehrwürdigen Königsgambit begeistert Adhiban das Publikum mit zeitgenössischen Interpretationen romantischer Schacheröffnungen. Die Gegner zeigen sich beeindruckt, Adhiban holt sagenhafte dreieinhalb Punkte aus den Runden fünf bis acht.

Raggers Chance

Woran man ablesen mag, dass ein Sieg in der Challengers-Gruppe zu Recht für den Eintritt in den Olymp des Masters qualifiziert. Und genau dort will auch der österreichische Spitzen-Großmeister Markus Ragger hin.

Nach fantastischen vier aus vier muss Ragger allerdings ein bis zwei Gänge zurückschalten: Einem Remis in Runde fünf folgt eine schmerzhafte Schwarzniederlage gegen den stark aufkommenden Engländer Gawain Jones. In einem leicht schlechteren, aber wohl haltbaren Endspiel übersieht Ragger einen taktischen Trick und muss in der Folge seine erste Null anschreiben.

Alles offen

Danach rappelt sich die österreichsiche Nummer eins aber wieder auf und besiegt ohne große Mühe Tabellenschlusslicht Sopiko Guramishvili – die georgische Ehefrau von Masters-Teilnehmer Anish Giri kann sich mit nur einem Punkt aus acht Partien im stark besetzten Challengers bisher nicht behaupten.

Mit einem wichtigen Schwarzremis in Runde acht hält Ragger vor dem zweiten Ruhetag schließlich Verfolger Ilia Smirin auf Distanz und liegt – nun allerdings ex aeqo mit Gawain Jones – mit sechs Punkten aus acht Partien immer noch in Führung. Der Kampf um Platz eins im Challengers ist offen, Raggers Chancen sind intakt. Nur Aussetzer à la Magnus Carlsen darf sich der Kärntner in den letzten fünf Runden vermutlich keine erlauben. (Anatol Vitouch, 23.1.2017)