Kanzler Christian Kern und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner sind derzeit noch Koalitionspartner.

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Dürften die Österreicher ihren Kanzler direkt wählen, wäre die Entscheidung für Christian Kern einfach: Umfragen attestieren dem SPÖ-Chef persönlich derart große Popularität, dass er an den Urnen auf einen Erdrutschsieg hoffen dürfte. Warum also nicht vorzeitige Neuwahlen anzetteln, um die Gunst der Stunde zu nutzen? Angesichts des Kleinkriegs in der Koalition – die SPÖ wirft der ÖVP Obstruktion vor – könnte das strahlende Image im Herbst 2018, dem planmäßigen Termin der Nationalratswahl, längst verflogen sein. "Kein Startbonus hält ewig", sagt der Politologe Peter Filzmaier, "da braucht Kern nur bei ÖVP-Chef Mitterlehner nachzufragen."

Überdies könnte die SPÖ darauf spekulieren, die Konkurrenz auf dem falschen Fuß zu erwischen: Die ÖVP hat weder den logischen Spitzenkandidaten in Stellung gebracht noch einen Gegenentwurf zum Kern'schen Plan A, mit dem sie in den Wahlkampf ziehen könnte.

Blöd nur, dass hierzulande immer noch Parteien zur Wahl stehen, denn die Zugkraft des Frontmannes riss die eigene Marke bisher nicht mit: Die SPÖ liegt in allen Umfragen konstant hinter der FPÖ. Die Sozialdemokraten haben bei Neuwahlen viel zu verlieren, nämlich Kanzlerschaft und Regierungsbeteiligung; mehr als abermals Erster werden können sie hingegen nicht. Und selbst wenn die Titelverteidigung mit einem Stimmenplus gelingt: Bleibt am Ende ein anderer Ausweg als die unselige Koalition mit der ÖVP?

Auf die FPÖ angewiesen

Eine Regierung aus SPÖ, Grünen und Neos ist angesichts der Kräfteverhältnisse eine sehr vage Hoffnung, besonders dann, wenn bei der ÖVP mit Sebastian Kurz ein Spitzenkandidat antreten sollte, der abtrünnige Wähler von den Neos zurückholen könnte. Soll die Wahl der SPÖ also eine neue Option eröffnen, ist diese womöglich auf die FPÖ angewiesen.

Kern mag diese Variante – darauf deuten Annäherungsversuche hin – ernsthaft ins Auge fassen. Doch dann stellt sich immer noch die Frage, ob er einen solchen Tabubruch in den eigenen Reihen auf die Schnelle durchbringt. Schließlich gehörte für Jahrzehnte zum roten, per Parteitagsbeschluss besiegelten Selbstverständnis: mit dieser FPÖ nicht!

"Ausgeschlossen" nannte Michael Häupl unlängst eine rot-blaue Bundesregierung. Der in die Jahre gekommene Bürgermeister mag in der Bundes-SPÖ immer weniger mitzureden haben – doch er gibt allemal eine gerade bei Wiener Genossen weitverbreitete Stimmungslage wieder.

Noch ein Wiener Handicap: Die von Flügelkämpfen gebeutelte Stadtpartei ist nicht gerade im Idealzustand, um entschlossen einen Wahlkampf durchzufechten. Ohne starken Auftritt in der Metropole droht jede SP-Kampagne zum Rohrkrepierer zu werden.

Hüben wie drüben gilt allerdings: Emotionen überlagern bisweilen rationale Überlegungen. Auf beiden Seiten haben viele Vertreter die große Koalition im Herzen satt, und Frusterlebnisse hatte trotz kurzer Amtszeit auch Christian Kern schon zur Genüge. Dass der Ex-ÖBB-Chef das Risiko nicht scheut, ließ er bereits beim Antritt anklingen: Notfalls, kündigte Kern an, gehe er mit der SPÖ auch in die Opposition.

Der unverdächtige ÖVP-Chef

Zerbricht eine Koalition, führen die Spuren oft ins schwarze Lager: Die drei letzten Parteichefs, die den Notausgang nahmen, stammten alle aus der ÖVP. Der amtierende Obmann allerdings ist diesbezüglich unverdächtig: Vizekanzler Reinhold Mitterlehner hat wohl als Letzter in der kleineren Regierungspartei Interesse an Neuwahlen – außer der Oberösterreicher träumt insgeheim von mehr Tagesfreizeit.

Nach einem Koalitionsbruch hätte der Parteichef gute Chancen, als "Frühstücksdirektor" zu enden, glaubt der Politologe Filzmaier: Außenminister Sebastian Kurz sei um so viel populärer, dass die ÖVP nach rationalen Kriterien gar nicht umhinkomme, ihn anstelle Mitterlehners zum Spitzenkandidaten zu küren. Er wolle keinesfalls eine persönliche Wertung vornehmen, sagt der Wahlforscher, "aber angesichts der Imagewerte wäre alles andere fast geschäftsschädigendes Verhalten. Das wäre so, als wenn ein Verkäufer das von allen Kunden am besten bewertete Produkt bewusst nicht ins Regal stellt."

Kurz' Prestige als immer noch relativ unverbrauchter Jungstar ist auch das beste Argument dafür, dass die ÖVP die Flucht aus der ungeliebten Koalition antreten könnte. Die Partei selbst hat beim Hasardspiel gar nicht so viel zu verlieren. Geht man davon aus, dass SP-Chef Christian Kern letztlich vor einer Koalition mit der FPÖ zurückschreckt, dann sitzen die Schwarzen mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach der nächsten Wahl in der Regierung – selbst bei einem Rückfall auf Platz drei.

Nachwuchshoffnung nicht verheizen

Ärgere Schrammen riskiert jedoch Sebastian Kurz persönlich, der erstmals in der Verliererecke landen könnte. Es ist deshalb nicht gesichert, ob sich der Minister trotz prinzipieller Ambitionen zum aktuellen Zeitpunkt in die erste Reihe stellen lässt. Schon einmal hat sich eine Nachwuchshoffnung in der ÖVP nicht voreilig verheizen lassen: Als der damalige Parteichef Wilhelm Molterer 2008 Neuwahlen vom Zaun gebrochen hatte, soll Josef Pröll bekniet worden sein, statt Molterer einzuspringen, heißt es. Doch der habe wegen Aussichtslosigkeit abgewinkt – und übernahm erst nach verlorener Wahl das Ruder.

Ungünstig sind die Umstände diesmal ebenfalls, das gilt nicht nur für die schlechten Umfragewerte. Der Wechsel an der Spitze ist nicht vorbereitet, die ÖVP wäre erst einmal mit sich selbst statt mit Wahlkampf beschäftigt. Und selbst wenn sich Bünde, Länder und Mitterlehner-Anhänger für eine reibungslose Rochade artig der Parteiräson unterordneten: Ein kampagnentaugliches Konzept hat Kurz deshalb noch lange nicht.

Die möglicherweise verlockendere Option für Kurz, der sich als Außenminister von tagespolitischem Hickhack abkoppeln kann: Warten, bis sich Kern in der Koalition aufgerieben hat.

Was der ÖVP noch mehr als der SPÖ, die Widerstand gegen den Plan A beklagen kann, fehlt: ein handfester Anlass, um einen Bruch öffentlich zu argumentieren. Von der Asylpolitik bis zur Arbeitszeitflexibilisierung kamen die Sozialdemokraten der ÖVP zuletzt mehrfach entgegen – keine gute Basis für einen Absprung. (Gerald John, 26.1.2017)