Nervenbahnen transportieren elektrische Impulse – Schaltstellen haben eine Schlüsselfunktion: Bei MS-Patienten entstehen Schäden im System.

Foto: iStockphoto

Noch vor einigen Jahren verspürten viele Ärzte ein mulmiges Gefühl, wenn sie ihren Patienten mit multipler Sklerose gegenübersaßen. Sie konnten ihnen nur eine ziemlich ungewisse Zukunft versprechen. Oft sah diese Zukunft sogar äußerst düster aus. Schließlich geht bei der Autoimmunerkrankung das Immunsystem gegen den eigenen Körper vor. In Schüben, zwischen denen Monate der Erholung liegen können, greift die Immunabwehr die Ummantelung von Nerven, die sogenannten Myelinscheiden, als körperfremd an. Ohne dieses Isoliermaterial können die Nerven die elektrischen Befehle des Gehirns nur schlecht weiterleiten. Die Nerven sterben allmählich ab, das Gehirn schrumpft und der Patient endet im Rollstuhl.

Doch mittlerweile können Ärzte ihren Patienten größere Hoffnung machen. "In den letzten fünf, sechs Jahren hat sich bei der Behandlung der schubförmig verlaufenden multiplen Sklerose einiges getan", sagt die Neurologin Catharina Korsukewitz vom Universitätsklinikum Münster. Es gebe deutlich mehr medikamentöse Therapien als zuvor. Die Medikamente verringerten unter anderem die Häufigkeit der Schübe.

Schübe stoppen

Viele heutige Medikamente setzen dabei gezielter an verschiedenen Stellen des Immunsystems an als ältere Präparate. Catharina Korsukewitz verweist auf zwei Antikörpertherapien, die per Infusion verabreicht werden und offenbar die Schubraten am stärksten reduzieren können. Der Wirkstoff Natalizumab etwa sei ein Antikörper, der das Einwandern von weißen Blutzellen, Zellen des Immunsystems, in das Gehirn hemmt. "Dieses Medikament verringert die Häufigkeit der Schübe um rund 60 bis 70 Prozent." Das klinge vielleicht aus Sicht der betroffenen Patienten nicht viel. "Es ist aber deutlich mehr als bei älteren Medikamenten."

Die Neurologin verschweigt dabei nicht, dass die neueren Medikamente zum Teil schwerere Nebenwirkungen haben können als die älteren Präparate. Natalizumab etwa wird mit einem erhöhten Risiko in Verbindung gebracht, eine progressive multifokale Leukenzephalopathie zu entwickeln, eine Infektion, die zu Behinderungen oder sogar zum Tod führen kann.

Nach dem derzeitigen Stand sind rund vier von jeweils 1.000 mit dem Medikament behandelte Patienten von der Erkrankung betroffen. Dennoch betont Catharina Korsukewitz die unter dem Strich positive Bilanz der Vorzüge der Medikamente. "Sie ermöglichen es, die Therapie viel gezielter auf den einzelnen Patienten hin abzustimmen, und erhöhen die Chance, auch langfristig ohne Behinderung mit der Erkrankung zu leben."

Varianten der Erkrankung

Neben dem häufigen schubförmigen Verlauf, gibt es aber auch andere Varianten von multipler Sklerose, für die weiterhin wenige Medikamente zur Verfügung stehen. Bei einem Teil der Patienten attackiert das Immunsystem die Nervenscheiden zwar zunächst wie gehabt in Schüben, nach denen sich die Beschwerden ganz oder zu einem Großteil wieder zurückbilden.

Doch mit längerer Erkrankungsdauer nehmen die neurologischen Defizite fortschreitend zu. Immerhin ist für diese sogenannte sekundär progrediente multiple Sklerose das Medikament Mitoxantron zugelassen. Es wirkt, indem es die Vermehrung von weißen Blutkörperchen hemmt. "Mitoxantron kann durchaus effektiv sein, das Fortschreiten der Erkrankung zu bremsen", sagt Catharina Korsukewitz. "Allerdings wirkt es nicht bei allen Patienten gleichermaßen gut." Zudem könne man das Medikament nur eine bestimmte Zeit geben, weil es bei höheren Dosierungen zu einer Herzschädigung kommt.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeichnet sich am Horizont auch für Patienten mit der primär progredienten Variante ab, bei der von Anfang an keine Schübe abgrenzbar sind und sich eine schleichende Verschlechterung beobachten lässt. Denn für 2017 werde die Zulassung eines neuen Medikaments mit dem Wirkstoff Ocrelizumab erwartet, so Catharina Korsukewitz. "Hier konnten Studien erstmals eine Wirksamkeit bei Patienten mit einer primär progredienten Verlaufsform zeigen."

Mechanismen individuell

Auch wenn multiple Sklerose heute als Autoimmunerkrankung verstanden wird, sind die Mechanismen noch nicht im Detail bekannt. Es scheinen aber unterschiedliche Zelltypen und Botenstoffe beteiligt zu sein, deren Bedeutung von Patient zu Patient variieren kann. Dementsprechend reagieren die Betroffenen unterschiedlich auf die einzelnen Medikamente.

Welche Therapie man dem einzelnen Patienten empfiehlt, hängt auch vom klinischen Verlauf ab. "Die wirksamsten Medikamente können zum Teil Nebenwirkungen haben, so dass immer eine Nutzen-Risiko-Abwägung stattfinden muss", sagt Catharina Korsukewitz. Bei einer geringen Schubrate und wenigen Schädigungen im Gehirn auf einer MRT-Aufnahme könne man auf Medikamente zurückgreifen, die man schon lange kennt und deren Nebenwirkungen auch langfristig überschaubar sind.

"Hat ein Patient allerdings zwei Schübe in zwei Monaten, die sich auch nur schlecht zurückbilden, und viele Schädigungen im MRT, dann steigen wir lieber mit einem hochwirksamen Medikament ein und nehmen die Nebenwirkungen in Kauf."

Auch wenn multiple Sklerose immer noch nicht heilbar ist, können Ärzte die Erkrankung immer besser in Schach halten. Eine Langzeitstudie im Fachblatt "Annals of Neurology" zeigte kürzlich: Aufgrund der besseren Behandlung enden heute weniger Patienten im Rollstuhl oder sind auf Krücken angewiesen. Die Zukunft sieht für viele Patienten mit multipler Sklerose nicht mehr so düster aus. (Christian Wolf, 31.1.2017)