Die Unterstützung für Familien ist in Österreich nur punktuell – Eltern landen oft in der völligen Erschöpfung.

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Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres berichtete DER STANDARD über massive strukturelle Mängel und daraus resultierende Gewalt an Kindern, die in Behinderteneinrichtungen leben. War es im Frühjahr 2016 das Konradinum in Salzburg (Zahlreiche Mängel in Salzburger Heim für Schwerbehinderte), so ist es nun eine Einrichtung in Wien (Verfahren gegen Diakonie wegen Vernachlässigung in betreuter WG). Die Berichte werfen vor allem aus menschenrechtlicher Sicht einige Fragen auf, die endlich eingehend diskutiert und mit entsprechenden Maßnahmen politisch nachhaltig beantwortet werden müssen:

Inklusive Angebote

1. Wieso werden entgegen den Vorgaben der UN-Kinderrechts- und der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich immer noch behinderte Kinder und Jugendliche in Sondereinrichtungen untergebracht?

Die Vorgaben der einschlägigen Menschenrechtsdokumente sind eindeutig: Grundprinzip müssen inklusive Angebote sein. Das heißt, dass behinderte Kinder in den Regeleinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden und für diese die entsprechenden Rahmenbedingungen sicherzustellen sind. Beispielsweise müssen die Räumlichkeiten von Wohngemeinschaften barrierefrei zugänglich sein. Außerdem muss qualifiziertes Personal zur Verfügung stehen. Einrichtungen müssen sich grundsätzlich darauf einstellen, dass sie gegebenenfalls auch Kinder mit Behinderungen aufnehmen und betreuen.

Kinder und Erwachsene in einer Einrichtung

2. Wieso werden entgegen den allgemeinen Standards in der Kinder- und Jugendhilfe behinderte Kinder in Einrichtungen gemeinsam mit Erwachsenen betreut?

Dass Kinder gemeinsam mit Erwachsenen betreut werden, ist gemeinhin undenkbar. Für behinderte Kinder gelten aber offensichtlich andere Maßstäbe: Sowohl im Konradinum als auch in der Wohneinrichtung in der Steinergasse leben offensichtlich erwachsene Menschen mit Behinderungen. Ob dies im Sinne des Wohls der behinderten Kinder ist, bleibt zu bezweifeln.

Aussonderung und Isolation

3. Wieso ist Gewalt an behinderten Kindern durch Aussonderung kein öffentliches Thema?

Die Aussonderung von behinderten Kindern, also beispielsweise deren Unterbringung in Einrichtungen speziell für behinderte Kinder, wird von der Europäischen Agentur für Grundrechte in einem ausführlichen Bericht über Gewalt an Kindern mit Behinderungen als ein wesentlicher Faktor dafür angeführt, dass Kinder mit Behinderungen signifikant häufiger alle Formen von Gewalt erleben. In Österreich ist dies – abgesehen von der endlosen Debatte über die Schulintegration und den Weiterbestand von Sonderschulen – bislang kein öffentlich diskutiertes und behandeltes Thema. Hierzulande bringt man lieber "Licht ins Dunkel", anstatt Menschenrechtsverletzungen durch Aussonderung und Isolation konsequent und strukturell entgegenzuwirken.

Völlig erschöpfte Eltern

4. Wieso erhalten Familien mit behinderten Kindern nicht bedarfsgerecht Unterstützung, damit sie den Alltag gut bewältigen können?

Familienentlastende Dienste und bedarfsgerechte Unterstützungsdienste für Familien mit behinderten Töchtern und Söhnen sind in Österreich unzureichend. In guter föderalistischer Tradition gibt es in jedem Bundesland unterschiedliche Angebote, gemeinsam ist ihnen, dass die Unterstützung für Familien nur punktuell ist und Eltern oft in der völligen Erschöpfung landen. Viel besser ausgebaut sind aussondernde Angebote: Sonderschulen mit Nachmittagsbetreuung, Sonderschulen mit angeschlossenen Internaten und eben Wohneinrichtungen nur für behinderte Kinder. Dass erschöpfte Eltern diese gutheißen, ist nicht verwunderlich, und so wird ein Ende dieser segregierenden Strukturen nicht einmal diskutiert, obwohl diese sowohl der UN-Kinderrechts- als auch der UN-Behindertenrechtskonvention widersprechen.

Systematische Erforschung fehlt

5. Wieso gibt es immer noch keine historische Aufarbeitung von Missbrauch und Gewalt in Behinderteneinrichtungen?

Seit den Berichten über Gewalterfahrungen ehemaliger Heimkinder aus Einrichtungen der Jugendwohlfahrt hat es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur historischen Aufarbeitung dieses Themas gegeben. Die Heimunterbringung von behinderten Kindern und Jugendlichen blieb dabei bislang außen vor, einzig die Missstände im Pavillon 15 des psychiatrischen Krankenhauses in Wien werden aufgearbeitet, allerdings ist der Bericht noch ausständig. Eine systematische Erforschung zu Gewalt an behinderten Kindern und Erwachsenen in Einrichtungen der Behindertenhilfe ist nicht in Sicht.

Wie viele Skandale braucht es noch, bis die politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene endlich wachgerüttelt sind und zu handeln beginnen? (Petra Flieger, 1.2.2017)