Der französische Regisseur Bruno Dumont.

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Wien – Mit Die feine Gesellschaft (Ma loute) hat Bruno Dumont eine Groteske realisiert, die sich wie noch selten ein Film davor dem Wahnwitz verschreibt. In einer nordfranzösischen Dünenlandschaft der 1910er-Jahre ermitteln zwei Polizisten in einer rätselhaften Serie von Vermissten. Das Personal dieser entlarvenden Sittenkomödie ist wie schon in der Kurzserie P'tit Quinquin verhaltensauffällig. Auf der einen Seite outrieren Filmstars wie Juliette Binoche, Fabrice Lucchini und Valeria Bruni Tedeschi als Vertreter einer dementen Bourgeoisie, auf der anderen Seite wütet ein Fischerclan, der sich mit Rohfleisch selbst erlegter Touristen ernährt. Dumont treibt seine Komödie ins Extreme, bis im wahrsten Sinne des Wortes die Nähte platzen.

Eine Dünenlandschaft als Treffpunkt für Liebende, vertrottelte Polizisten und Kannibalen: Bruno Dumonts "Die feine Gesellschaft" sucht in der Komödie nach menschlichen Wesenszügen.
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STANDARD: "Die feine Gesellschaft" ist Ihre zweite Komödie. Ihre früheren Filme wie "La vie de Jésus" oder "L'Humanité" waren harscher, naturalistischer. Was hat diesen Wechsel ausgelöst?

Dumont: Ich hatte den Eindruck, dass in meinen früheren Filmen etwas ungesagt blieb. Mit dem Tragikomischen erscheint mir meine Annäherung an die menschliche Natur nun kompletter zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass wir Menschen nicht entweder komisch oder tragisch sind, sondern beides zugleich. Es war für mich überraschend, dass die Komödie meine Filme nicht leichter oder leerer werden lässt.

STANDARD: Was ist die wichtigste Qualität einer Komödie?

Dumont: Eine Komödie besteht aus Explosionen. Stets muss etwas zerbersten. Diese Effektivität macht mir auch Angst. Denn wenn man eine Komödie dreht, dann lachen die Leute, oder sie tun es nicht. Darin steckt etwas viel Radikaleres als im Drama, wo man sich immer noch einen zweiten Gedanken machen kann.

STANDARD: Komödien drücken sich stark über den Körper aus. In Ihrem Film hat die bourgeoise Familie zahlreiche Ticks, es gibt einen beleibten Polizisten, der wie eine Kugel über Dünen rollt. Lag im Slapstick für Sie der besondere Reiz?

Dumont: Die Komödie ist in der Tat interessant, weil sie weniger verkopft ist, womit sie notwendigerweise beim Körper landet. Ein Regime, das simpel, aber auch sehr visuell ist. Mir gefiel die Idee, mit Schauspielern auf diese Weise zu arbeiten, weil man dadurch eine besondere Nähe herstellt. Natürlich gibt es im Film verschiedene Formen der Komödie, es gibt auch Aspekte, die gar nicht komisch sind wie die kannibalistische Fischerfamilie. Ich habe nach einer Balance von Gegensätzen gesucht.

STANDARD: Das erkennt man schon daran, wie die bürgerliche Familie die Fischer idealisiert. Man hat den Eindruck, hier treten zwei unversöhnliche Klassen auf.

Dumont: Mir ging es darum, ein breites Spektrum der menschlichen Natur abzubilden. Und darum, es zu überzeichnen, sodass es nicht zu intellektuell, sondern verkörpert wirkt. Umgekehrt wollte ich den Abstand zwischen den Klassen so groß wie möglich darstellen. Deshalb habe ich die Fischerfamilie zu Kannibalen gemacht, wie Vertreter der Ursprünge der Menschheit. Auf der bourgeoisen Seite wollte ich die schlimmsten Eigenschaften herausarbeiten: die Eitelkeit, die Bündelung einer Kultur, die vorgibt, viel zu wissen, in Wahrheit aber nur ihr Verlangen befriedigt, sich über andere zu stellen.

STANDARD: Deren Ticks und Repetitionen zeigen an, wie verhärtet die sozialen Unterschiede sind?

Dumont: Genau, denn das ist die Begrenztheit des Snobismus. Der Zustand verhärtet sich so weit, dass es nachgerade stupid wirkt. Sie handeln ständig anders, als sie denken. Zugleich gibt es diese Bewunderung für das Außergewöhnliche, dieses Bedürfnis, das Andere, Fremde zumindest aus der Ferne schön zu finden. Die Armut wird dadurch zu etwas Außergewöhnlichem.

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STANDARD: Wie entwickeln Sie diesen Stil mit den Darstellern? Bei Binoche und Lucchini hat man das Gefühl, Sie bedienen sich bestimmter Manierismen und übersteigern sie dann aber über alle Maßen.

Dumont: Die Schauspieler haben ja nichts anderes als ihre ureigenes Material, und vor aller Professionalität sind sie zunächst einmal nur Menschen. Wenn Juliette tut, was sie tut, dann macht sie das mit ihrem Körper, ihren Ausdrucksmöglichkeiten – das sind ihre einzigen Werkzeuge. Das Ironische daran ist, dass viele Schauspieler abgelehnt haben, mitzuwirken. Vielen war das zu steil, sie hatten Angst, sich gehen zu lassen. Wenn man es jedoch riskiert, erlebt man eine Form der Transzendenz. Wir haben es hier mit der Aristokratie des französischen Kinos zu tun: Wenn sie ihren Status mit einer Rolle wie dieser hinterfragen, machen sie sich doch liebenswerter!

STANDARD: Lucchini verglich es mit einer totalen Kastration ...

Dumont: Er meinte das aber ganz ohne Ironie. Er hatte wirklich eine harte Zeit, denn er musste seine Distanz Stück für Stück ablegen. Ich finde es sehr anregend, mit Leuten zu arbeiten, die das Gegenteil von mir sind. Das Kino von Lucchini ist völlig konträr zu dem, was ich mache und was ich bin. Aber er kam auf mich zu, und wenn ich sage, es war schwer, heißt das nicht, dass es pervers oder gar ungesund war.

STANDARD: Zwischen dem Tomboy Billie und dem Fischerbuben Ma Loute gibt es ein überraschendes Einverständnis. Worum geht es bei dieser Liebe? Das Spirituelle spielt ja in allen Ihren Filmen eine besondere Rolle.

Dumont: Das ist der Versuch, das Heilige im Lächerlichen zu finden. Selbst ein Narr ist in dem Augenblick, wo er zu schweben beginnt, kein Narr mehr. Er erfährt einen Gnadenakt. Das ist etwas, was ich all meinen Figuren ermöglichen möchte, eine Form der Erlösung. Denn dafür gibt es das Kino: Es kann der menschlichen Conditio Gnade gewähren.

STANDARD: Ist die Gnade dann ein Resultat der Form: wie man die Menschen in der Landschaft filmt, wie man ihre Gesichter kadriert?

Dumont: So ist es. Deshalb ist das Kino für mich eine Religion. Nicht wegen des Films, der ist eher eine Mystifikation, ein Werkzeug. Doch das Kino als Anordnung ist dazu gemacht, religiös zu wirken. Es gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, von der Gnade berührt zu werden. (Dominik Kamalzadeh, 2.2.2017)