Hat sie, oder hat sie nicht? Der Verhörspezialist Thomas (Bernhard Schir) möchte Judith (Maria Köstlinger) das Geheimnis entlocken, ob sie ausgerechnet zu Weihnachten einen Anschlag plant.

Foto: Robert Jaeger / APA

Bernhard Schir und Maria Köstlinger in "Heilig Abend".

Foto: APA/ROBERT JAEGER

Wien – Der fast unmerkliche Abbau demokratischer Freiheitsrechte hat ein bedenkliches Maß erreicht. Die Terrorangst hält unsere Sicherheitsapparate in Atem, und immer mehr Kollateralschäden sind zu beklagen. In Daniel Kehlmanns Verhörthriller Heilig Abend wird ausgerechnet die Beschaulichkeit des Weihnachtsabends dem Bedürfnis nach Sicherheit geopfert. Die digitale Uhr im Josefstadt-Theater zeigt pünktlich "22:30" an.

Eine Philosophieprofessorin mit links-subversiven Ansichten (Maria Köstlinger) sitzt hinter einer Plexiglaswand auf einem Verhörstuhl. Die nackte Betonwand verrät etwas von den Schrecken der Ermittlungspraxis (Ausstattung: Walter Vogelweider). Gefahr ist im Verzug. Nach Verstreichen einer mehrminütigen Schicklichkeitsfrist betritt der Verhörspezialist (Bernhard Schir) den Raum. Zeit für die Justizwachebeamtin, das Zimmer zu verlassen. Ab nun soll routinierte Überredungskunst die Zunge der Terrortatverdächtigen lösen.

Knapp eineinhalb Stunden verbleiben dem Kommissar, um aus Judith (Köstlinger) ein Geständnis herauszupressen. Kehlmanns dramatische Fingerübung bewegt sich geschmeidig durch den scheinbar unbegrenzten Raum der Möglichkeiten. Eine unnennbar schreckliche Gewalttat soll pünktlich um Mitternacht den Terror in die Mitte unserer Gesellschaft hineintragen. Die Polizei, unser Freund und Helfer, hat angeblich belastendes Material auf Judiths Festplatte gefunden. Rechtfertigt ein solcher Verdacht die Druckausübung auf Unbescholtene? Heilig Abend, dieser nach angelsächsischem Muster gebaute Dialog, verhält sich zu der brisanten Frage wie ein Besinnungsaufsatz.

Kehlmann diskutiert brav Nutzen und Nachteil der Gewaltprävention für unser friedliches Zusammenleben. Dem Kommissar ist alles klar. Schir gebietet über ein ganzes Arsenal von Schmeicheltönen und Drohgebärden. Er kann der Delinquentin in spe zärtlich Warnungen in den Nacken flüstern, um sich im nächsten Moment schreckenerregend vor ihr aufzubauen wie ein Kleiderbaum.

Ein Held namens "Uhr"

Der wahre Held in Herbert Föttingers betont sachlicher Uraufführungsinszenierung ist natürlich die Uhr. Sie ist der denkbar unbestechlichste aller möglichen Protagonisten. Die eineinhalb Stunden, die bis zum Weltuntergang verbleiben, zählt sie ungerührt herunter. Man kann dabei natürlich, so wie Kehlmann, an Gary Cooper in dem Westernklassiker High Noon denken.

Man kann sich aber auch von den zahlreichen Feinheiten des Dialogs prächtig amüsieren lassen. Judith setzt den Avancen ihres Peinigers spröde Zähigkeit entgegen. Ihre Augen kreisen hinter den Brillengläsern, der virilen Ungeschlachtheit Thomas' begegnet sie mit akademischer Trockenheit. Das Stück wirbt unverhohlen um Sympathie für den Foltermeister. Im Zuge seiner Vorbereitungen hat der sich durch eine ziegeldicke Schrift über den Sartre-Schützling Frantz Fanon (1925-1961) quälen müssen. Fanon, der Gewalt predigte im Namen der Verdammten dieser Erde!

Kehlmann zeigt, was aus der Buchgelehrtheit unserer Linken geworden ist: sprödes Lesefutter für Überwachungsspezialisten der mittleren Intelligenzstufe. Das ist eine grandiose Pointe. Hier wird der subversiven Kraft von Theorie ein Abschiedsständchen nachgesungen. Und so sieht man der Unternehmung auch ihre weniger gewinnenden Aspekte nach. Die Bühne hat sich einmal im Kreis gedreht, um das gut besetzte Überwachungsbüro unseren Blicken preiszugeben. Wir haben verstanden.

In der zweiten Dreiviertelstunde engt sich der Dialog auf die Frage ein, ob Judiths Ex-Ehemann parallel ein Geständnis abgelegt hat. Köstlinger mobilisiert noch einmal alle Zischlaute der Verachtung, ehe ein Generatorensummen bedrohlich anschwillt.

Solcher Überdeutlichkeit hat es vielleicht nicht unbedingt bedurft. Aber man muss dieses kleine Requiem auf unsere liberalen Denk- und Lebensgewohnheiten schon auch als das nehmen, was es ist: ein tadelloses Stück Gebrauchsliteratur. Mit Weihnachten wird das nichts mehr. Dafür erstreckte sich der höfliche Applaus auf die Beteiligten und auf die beiden Uhren. Eine klebt an der Verhörzimmerwand, eine zweite schwebt über allen Sicherheitsapparaten dieser Welt. Zeit, Lob auszusprechen. (Ronald Pohl, 3.2.2017)