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Migranten, darunter viele aus Gambia, werden von Italiens Marine in den Hafen von Neapel gebracht.

Foto: EPA / Ciro Fusco

In den Geschichtsbüchern wird Abdulaie für immer eine Nummer bleiben. Einer von mehr als 5000 Menschen, die 2016 beim Versuch, nach Europa zu gelangen, gescheitert sind – und im Mittelmeer ertranken. "Hier hat er mir erzählt, dass er bald losziehen würde", sagt Lamin und zeigt auf eine Holzbank, die am Ufer des mächtigen Gambia-Flusses steht: "Ich habe es ihm nicht geglaubt."

Für sein Misstrauen hatte der Hausmeister einer leerstehenden Touristen-Lodge gute Gründe. Abdulaie, Lamins bester Freund, führte ein Leben, um das ihn viele beneideten: Der Touristenführer hatte einen gut bezahlten Job, kam im Land herum. Trotzdem verließ Abdulaie sein Dorf Brutang Bolong, das knapp hundert Kilometer östlich der gambischen Hauptstadt Banjul liegt.

Er ist bei weitem nicht der Erste im Dorf. In fast jeder Familie Brutang Bolongs fehlt zumindest ein männlicher Spross. Dann sind oft Frauen, Kinder und Alte auf sich selbst gestellt: Sie leben von der Hoffnung, dass die Davongelaufenen irgendwann einmal etwas Geld nach Hause überweisen. Bei Abdulaie kam es nie so weit.

Von keinem anderen Land Afrikas machen sich prozentual gesehen mehr Menschen auf den Weg in den gelobten Norden als von Gambia. Dem knapp zwei Millionen Einwohner zählenden westafrikanischen Kleinstaat kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bereits mehr als fünf Prozent der Bevölkerung abhanden – mehr als 100.000 Menschen. Allein im vergangenen Jahr zogen 11.300 Gambier durch den Senegal, Mali, Burkina Faso und den Niger nach Libyen, um schließlich in meist seeuntüchtigen Booten nach Italien überzusetzen.

Verlorene Generation

Brutang Bolong werde täglich ärmer, klagt Dorfchef Ceesay. Aus Mangel an Fischern würden kaum noch Fische aus dem Fluss gefangen. Fischer Musa Badjie hängte seinen Beruf wegen zu hohen Blutdrucks an den Nagel. Jetzt versucht der 56-Jährige seine 30-köpfige Großfamilie – drei Frauen, fünf Kinder, zwei unverheiratete Schwestern sowie zwei verwitwete Schwägerinnen einschließlich ihrer Kinder – als Bauer über Wasser zu halten. Musas Familie baut auf zwei Hektar Land Wassermelonen und Mais an. Musas ältester Sohn, Ousman, besucht ein College für Lehramtsanwärter. In Wahrheit hat er jedoch ganz andere Pläne: Er möchte so schnell wie möglich weg – am liebsten nach Kanada.

Die ersten Kontaktmänner der Ausreisewilligen sind einheimische Schlepper, die zumindest den Beginn bis etwa in die nigrische Wüstenstadt Agadez organisieren: Händler, Busunternehmer, die sich auf diese Weise ein Zubrot verdienen. Zur Begleichung der anfallenden Kosten verkaufen viele Familien ein Stück Land oder eine Kuh – in der Hoffnung, dass sich die Investition nach der Ankunft ihrer Gesandten in Europa auszahlt. Tatsächlich machen die Remissionen, die diese nach Hause schicken, ein stolzes Viertel des gambischen Bruttosozialproduktes aus.

Überall im Land sind angefangene Häuser zu sehen, die erfolgreiche Migranten über Jahre hinweg – wann immer etwas Geld zur Verfügung steht – in die Höhe ziehen. Frauen, heißt es im Dorf Brutang Bolong, seien nur noch an jenen Männern interessiert, die es im Ausland zu etwas brachten. "Wer etwas aus sich machen will", sagt Lamin, "geht weg."

In seinem Büro in der Hauptstadt Banjul berichtet EU-Botschafter Attila Lajos von den Versuchen der Union, der Abwanderungswelle etwas entgegenzusetzen: etwa indem in den Herkunftsländern wirtschaftliche Anreize geschaffen würden. Staaten, die bereit sind, in Europa abgeschobene Migranten aufzunehmen, würden mit Entwicklungsprojekten belohnt, sagt der Diplomat aus Ungarn: So werde den jungen Männern zu Hause eine Perspektive geboten. Ob das Konzept aufgeht, konnte bis jetzt noch nicht nachgewiesen werden. In Gambia war bis vor kurzem der exzentrische und korrupte Diktator Yahya Jammeh an der Macht. Jegliche Zusammenarbeit mit ihm sei unmöglich gewesen, sagt Botschafter Lajos.

Eine Sache des Geldes

Die Migration aus Afrika werde eher von Sehnsüchten als von Armut oder repressiver Herrschaft angeregt, weiß Hein de Haas, Gründungsmitglied des Internationalen Migrations-Instituts in Oxford. In bettelarmen Hungerländern wie Malawi, dem Niger oder Südsudan ist die Bevölkerung viel zu sehr mit dem bloßen Überleben beschäftigt, um aufwendige Pläne zum Ausreisen schmieden zu können. Und in Bürgerkriegsstaaten wie Burundi, dem Osten des Kongos oder der Zentralafrikanischen Republik sind die Menschen schon froh, wenn sie sich im Nachbarland in Sicherheit bringen können. Die überwiegende Mehrheit der nach Europa drängenden Afrikaner kommt aus Ländern wie Nigeria, Ghana, Gambia, Äthiopien oder dem Senegal, deren Bevölkerung es sich leisten kann, sich in Richtung Europa auf den Weg zu machen.

Zum EU-Arsenal gehören laut EU-Botschafter Lajos außer den Entwicklungsprojekten in den Herkunftsländern auch der Kampf gegen das Schlepperwesen sowie schärfere Aufnahmekontrollen. Was in jedem Fall fehlt, ist nach Auffassung des Migrationsexperten de Haas die Öffnung der legalen Einwanderung. Die Chance für ausgebildete und motivierte Afrikaner, ihre Kenntnisse in Europa aufzumöbeln – auch zum Nutzen ihrer Heimat, in die sie Geld überweisen und irgendwann später erfahrener zurückkehren werden. (Johannes Dieterich aus Banjul, 3.2.2017)